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Jan Fabel 04 - Carneval

Titel: Jan Fabel 04 - Carneval
Autoren: Craig Russell
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die Mündung von Aichingers Gewehr, während er die Tür weiter aufschob.
    »Ich trete vor, sodass Sie mich sehen können, Herr Aichinger. Ich bin nicht bewaffnet.«
    Einer der anderen MEK-Beamten griff nach Fabels Jackettärmel, als er sich der Tür näherte, doch er riss sich los. Fabels Herz hämmerte, und er nutzte jede durch den Stress gedehnte Sekunde, um so viel wie möglich in sich aufzunehmen. Der im Flur stehende Mann hätte nicht durchschnittlicher sein können. Ende dreißig, mit dunklem, kurz geschnittenem und gegeltem Haar, hatte er scheinbar austauschbare Züge. Noch nicht einmal ein Gesicht in der Menge, sondern ein so unauffälliges Gesicht, dass man es nach einer Begegnung sofort vergessen hätte. Georg Aichinger war jemand, der nie Aufsehen erregte. Nun allerdings doch. Er hielt ein neu wirkendes Sportgewehr in den Händen, aber er richtete es nicht auf Fabel. Seine Arme waren gestrafft, und er drückte den Lauf unter sein hochgerecktes Kinn. Sein Daumen bebte am Abzug.
    »Ruhig …« Fabel hob die Hand. »Ganz ruhig.« Er spähte an Aichinger vorbei in den Flur. Die Füße eines Menschen, der auf dem Boden des Wohnzimmers lag, ragten über die Schwelle. Kleine Füße. Die Füße eines Kindes. Scheiße, dachte er, der MEK-Chef hat recht gehabt.
    »Georg, hören Sie auf. Bitte … geben Sie mir das Gewehr.«
    Fabel schritt nach vorn, was Aichinger erstarren ließ. Der Daumen am Abzug zitterte nicht mehr. »Wenn Sie näher kommen, schieße ich. Ich bringe mich um.«
    Fabel warf einen weiteren Blick auf die Füße des Kindes. Ihm war übel. In diesem Moment war es ihm gleichgültig, ob Aichinger sich eine Kugel ins Gehirn jagte oder nicht. Dann sah er es. Winzig. So winzig, dass es ihm hätte entgehen können. Eine kleine Bewegung.
    »Georg … Die Kinder. Ihre Frau. Lassen Sie uns durch, damit wir ihnen helfen können.« Fabel hörte, wie jemand hinter ihm durch die Tür vorrückte. Er drehte sich um. Breidenbach zielte mit seiner Maschinenpistole auf Aichingers Kopf. »Runter damit!«, zischte Fabel. Breidenbach bewegte sich nicht. »Um Himmels willen, es ist doch schon eine Waffe auf ihn gerichtet … seine eigene. Senken Sie Ihre. Das ist ein Befehl.«
    Breidenbach ließ das Visier seiner Maschinenpistole ein wenig sinken. Fabel drehte sich wieder zu Aichinger um. »Ihre Frau … die Kinder. Haben Sie sie verletzt? Haben Sie die Kinder verletzt, Georg?«
    »Nichts hat einen Sinn«, sagte Aichinger, als hätte er Fabel nicht gehört. »Plötzlich habe ich gemerkt, dass nichts den geringsten Sinn hat. Wahrscheinlich habe ich in letzter Zeit oft darüber nachgedacht, aber heute Morgen hatte ich das Gefühl … ja, als wäre ich nicht real . Als hätte ich keine wirkliche Identität. Wie eine Gestalt in einem schlechten Film oder so.« Aichinger hielt mit gefurchter Stirn inne, als würde er etwas erklären, das er selbst nicht völlig verstand. »Als Kind hatte ich ein Bild im Kopf. Von dem Menschen, der ich sein würde. Dann habe ich gemerkt, dass ich dieser Mensch nicht bin. Nicht der Mann, der ich hätte werden sollen. Ich bin ein anderer.«
    Er machte eine Pause. Fabel lauschte durch das Schweigen hindurch angestrengt nach einem Geräusch aus dem Wohnzimmer.
    »Alles ist verrückt«, setzte Aichinger seine Tirade fort. »Ich meine die Art, wie wir leben. Wahnsinnig. Die Dinge, die um uns herum passieren. Alles ist Mist. Chaos. Nichts ist logisch … Nehmen Sie Ihren Kollegen. Ihn juckt es, mir eine Kugel in den Kopf zu schießen. Und Sie sind hier, weil ich ein Gewehr habe und drohe, davon Gebrauch zu machen. Er hat ebenfalls eine Waffe und droht, sie zu benutzen. Aber das ist akzeptabel. Warum? Weil er Polizist ist. Er soll für Ordnung sorgen. Nur ist es keine Ordnung.«
    »Georg …« Fabel schaute an Aichinger vorbei durch den Flur, um sich zu überzeugen, ob sich die kleinen Füße noch bewegten. »Die Kinder …«
    »Wissen Sie, womit ich mir meinen Lebensunterhalt verdiene, Herr Fabel? Ich bin ›Personalberater‹. Das heißt, ich hocke während meiner Arbeitsstunden hauptsächlich in einem Büro herum und suche nach Leuten, die andere Büros in anderen Firmen füllen. Es ist die zwecklose, beschissene Verschwendung eines Lebens. Meines Lebens. Das ist aus mir geworden. Ich bin ein Hamster in seinem Laufrad, der andere Hamster für andere Laufräder findet. Ich liefere den Nachschub für den großen unternehmerischen Fleischwolf. Damit verbringe ich mein Leben.
    Welchen Sinn hat das?
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