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Jan Fabel 02 - Wolfsfährte

Jan Fabel 02 - Wolfsfährte

Titel: Jan Fabel 02 - Wolfsfährte
Autoren: Craig Russell
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saß, ihr geradezu edles Profil mit der hohen Stirn und der Adlernase präsentierte. Hin und wieder tröpfelte ihr Speichel aus den Mundwinkeln, und der fürsorgliche Sohn wischte ihn ihr mit einem gefalteten Taschentuch ab. Er strich ihr das Haar erneut aus der Stirn und lehnte sich wieder so weit vor, dass seine Lippen fast ihr Ohr berührten. Während er leise sprach, gerieten die silbernen Haarsträhnen an ihrer Schläfe durch seinen Atem in Bewegung.
    »Ich habe heute wieder mit dem Arzt geredet, Mama. Er sagt, dass sich dein Zustand stabilisiert hat. Das ist schön, nicht wahr?« Er wartete nicht auf eine Antwort, die sie ihm ohnehin nicht geben konnte. »Jedenfalls meint der Arzt, dass du nach deinem großen Schlaganfall noch eine Reihe kleiner Anfälle hattest, die den Schaden angerichtet haben. Aber die sind nun vorbei, und dein Zustand wird sich nicht verschlimmern, wenn ich dafür sorge, dass du deine Medikamente bekommst.« Er machte eine Pause und atmete langsam aus. »Das bedeutet, ich könnte mich zu Hause um dich kümmern. Der Arzt war zuerst nicht sehr begeistert von dem Gedanken, aber du lässt dich doch nicht gern von Fremden versorgen, stimmt’s, Mama? Das habe ich dem Arzt erklärt. Zu Hause, mit mir zusammen, würdest du dich viel wohler fühlen. Ich habe ihm gesagt, dass ich eine Pflege für dich organisieren kann, wenn ich bei der Arbeit bin, und die übrige Zeit… na ja, die übrige Zeit hättest du ja mich, oder? Die Gemeindeschwester kann uns in der gemütlichen kleinen Wohnung besuchen,die ich gekauft habe. Der Arzt meint, dass du möglicherweise gegen Ende des Monats entlassen werden kannst. Ist das nicht wunderbar?«
    Er wartete, damit sie den Gedanken verarbeiten konnte, und musterte die geschwächten grauen Augen, die sich in dem starren Kopf träge bewegten. Wenn sich hinter den Augen irgendeine Emotion verbarg, so konnte sie nicht an die Oberfläche dringen. Er schob den Stuhl, der auf dem polierten Krankenhausfußboden quietschte, noch dichter ans Bett heran. »Natürlich wissen wir beide, dass es nicht so sein wird, wie ich dem Arzt weisgemacht habe, nicht, Mama?« Die Stimme blieb sanft und beruhigend. »Aber schließlich konnte ich dem Arzt nichts über das andere Haus erzählen… über unser Haus. Oder darüber, dass ich dich in Wirklichkeit tagelang in deiner eigenen Scheiße liegen lassen werde, richtig? Oder dass ich Stunden damit verbringen werde, deine noch vorhandene Schmerzempfindlichkeit zu testen. Nein, nein, das wäre unangebracht, findest du nicht auch, Mama?« Er lachte leise und kindlich. »Ich glaube nicht, dass der Arzt dich zu mir nach Hause zurückkehren lassen würde, wenn er das wüsste. Nur keine Sorge, ich werde ihm nichts verraten, wenn du es nicht tust – aber du kannst es ja nicht, stimmt’s, Mama? Schließlich hat Gott dich geknebelt und gefesselt. Das muss ein Zeichen sein. Ein Zeichen für mich.«
    Der Kopf der alten Frau blieb reglos, doch eine Träne sickerte aus ihrem Augenwinkel und erreichte die Falten an der Haut ihrer Schläfe. Er sprach noch leiser und ging in einen verschwörerischen Tonfall über. »Du und ich, wir werden zusammen sein. Allein. Und wir können über die alten Zeiten reden. Über die guten Zeiten in unserem großen, alten Haus. Als ich ein Kind war. Als ich schwach war und du stark.« Die Stimme zischte nun, und er atmete Gift in das Ohr der alten Frau. »Ich habe es wieder getan, Mama. Noch eine. Genau wie vor drei Jahren. Aber diesmal kannst du dich nicht einmischen, weilGott dich in deinen eigenen grässlichen Körper eingesperrt hat. Diesmal kannst du mich nicht aufhalten, und ich werde es immer wieder tun. Es ist unser kleines Geheimnis. Am Ende wirst du dabei sein, Mama, das verspreche ich dir. Aber wir sind erst am Anfang…«
    Auf dem Korridor wandten sich die beiden Schwestern, die nicht ahnen konnten, was sich zwischen Sohn und Mutter abspielte, von dem Krankenzimmer und dem rührenden Bild des versiegenden Lebens und der beständigen Kindesliebe ab. Sie beendeten ihren kurzen Blick auf eine traurige Existenz und kehrten zu praktischen Dingen wie dem Dienstplan, den Fieberkurven und der Verabreichung von Medikamenten zurück.

3.
    Polizeipräsidium Hamburg, Mittwoch, den 17. März, 16.30 Uhr
    Die frische, helle Morgenkälte war einer ungemütlichen Diesigkeit mit natriumfarbenem Himmel gewichen, der sich träge von der Nordsee vorgeschoben hatte. Ein schwaches Nieseln besprenkelte Fabels Bürofenster, und die
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