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Jakob der Luegner

Jakob der Luegner

Titel: Jakob der Luegner
Autoren: Jurek Becker
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Sinn, daß er sich möglicherweise in der Entfernung verschätzt hat, womöglich ist Bezanika gar nicht so weit, am Ende keine dreihundert Kilometer, sondern noch ein hübsches Stück weniger, der Mann vor ihm hat vielleicht Angst, der kluge Mann baut vor, für alles muß es eine natürliche Erklärung geben. Aber dann fällt ihm ein, daß die Meldung den Sprecher soeben erst erreicht hat, der Wachhabende hat geschlafen, er kann sie noch nicht gehört haben. Andererseits mag es ganz nützlich sein, daß er sie nicht gehört hat, in der Nachricht war davon die Rede, daß die Russen aufgehalten worden sind, es ist ja gelungen, den Vormarsch zu stoppen, da ist euch was gelungen, vielleicht denkt er, daß sie immer noch näher kommen. Jakob rechnet zu lange, der Wachhabende wird ungeduldig, das ist nicht klug, auf seiner Stirn bilden sich Falten.

    »Redest du nicht mit Deutschen?«
    Selbstverständlich redet Jakob mit Deutschen, wie wird er nicht mit Deutschen reden, dieser Eindruck soll um Himmels willen nicht aufkommen, wir sind doch alle vernünftige Menschen, da kann man doch miteinander reden.
    »Der Herr Posten auf dem Turm in der Kurländischen hat gesagt, ich soll mich bei Ihnen melden. Er hat gesagt, daß ich nach acht auf der Straße gewesen bin.«
    Der Wachhabende sieht auf die Uhr, die vor ihm auf dem Tisch steht, er schiebt den Ärmel zurück und sieht auch auf seine Armbanduhr.
    »Und sonst hat er nichts gesagt?«
    »Er hat noch gesagt, ich soll um eine gerechte Bestrafung bitten.«
    Die Antwort kann nicht schaden, denkt Jakob, sie klingt gehorsam, hinreißend ehrlich, jemand, der in seiner Offenheit so weit geht, könnte Anspruch auf gerechte Behandlung haben, vor allem wenn das Vergehen, dessen man ihn beschuldigt, gar nicht begangen worden ist, jede Uhr kann das bezeugen.
    »Wie heißt du?«
    »Heym, Jakob Heym.«
    Der Wachhabende nimmt Papier und Bleistift, schreibt etwas auf, nicht nur den Namen, er schreibt mehr, er sieht wieder auf die Uhr, es wird immer später, schreibt weiter, fast eine halbe Seite, dann legt er das Papier weg. Er öffnet ein Kästchen, nimmt eine Zigarette heraus und sucht in seiner Hosentasche.
    Jakob geht zu dem schwarzen Ledersofa, beugt sich, hebt das Feuerzeug von der Erde, legt es auf den Tisch vor den Wachhabenden.
    »Danke.«

    Jakob stellt sich wieder vor die Tür, er hat gesehen, daß die Uhr auf dem Tisch schon bei drei Viertel acht vorbei ist, bei dieser Gelegenheit. Der Wachhabende zündet die Zigarette an, raucht einen Zug, seine Finger spielen mit dem Feuerzeug, er macht es ein paarmal an und läßt es wieder zuschnappen, die Flamme ist schon ganz klein.
    »Wohnst du weit von hier?« fragt er.
    »Keine zehn Minuten.«
    »Geh nach Hause.«
    Soll man das glauben? Zu wie vielen hat er das schon gesagt, und sie sind nicht hier herausgekommen? Was wird er mit seinem Revolver machen, wenn Jakob sich umdreht? Was ist draußen auf dem Korridor? Wie wird sich der Posten verhalten, wenn er sieht, daß Jakob seiner gerechten Bestrafung entgangen ist? Warum soll Jakob Heym, ausgerechnet dieser kleine, unwichtige, zitternde Jakob Heym mit den Tränen in den Augen der erste Jude sein, der erzählen kann, wie es im Revier aussieht? Es sind, wie man sagt, sechs neue Schöpfungstage nötig, das Durcheinander ist noch größer geworden als es damals schon war.
    »Na los, hau schon ab«, sagt der Wachhabende.
    Der Korridor ist wieder leer, man kann sich fast schon darauf verlassen, rechne man ihn zu den kleineren Gefahrenquellen.
    Aber dann die Tür nach draußen. Hat sie eigentlich Geräusche gemacht vorhin beim öffnen, ist sie lautlos aufgegangen, oder hat sie gequietscht oder geknarrt oder geschleift? Geh und achte auf alles, gar nicht möglich, wenn man wenigstens vorher wüßte, daß es später von einiger Bedeutung sein wird. Aber was heißt Bedeutung, nüchtern gedacht, ist es vollkommen unwichtig, ob sie sich lautlos bewegen läßt oder nicht. Quietscht sie nicht, wird sie geöffnet, und quietscht sie, soll Jakob dann vielleicht hierbleiben, zehn Minuten vor acht?
    Die Klinke wird behutsam heruntergedrückt. Schade, daß es für behutsam kein anderes Wort gibt, höchstens sehr behutsam oder unendlich behutsam, alles genausoweit entfernt vom Gemeinten. Man kann vielleicht sagen, öffne die Tür leise, wenn er dich hört, könnte es das Leben kosten, das plötzlich sinnvoll gewordene. So öffnet er. Und dann steht Jakob draußen, wie kalt es auf einmal ist, der weite Platz
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