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Jakob der Luegner

Jakob der Luegner

Titel: Jakob der Luegner
Autoren: Jurek Becker
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sehr viel über dieses Haus, er weiß, daß dort irgendeine deutsche Verwaltung sitzt, so erzählt man sich jedenfalls. Was dort verwaltet wird, darüber ist nichts bekannt. Er weiß, daß dort früher das Finanzamt war, er weiß, daß es zwei Ausgänge gibt, einen nach vorne und einen aus dem Ghetto hinaus. Und vor allem weiß er, daß die Aussichten, als Jude lebend aus diesem Haus herauszukommen, sehr gering sind. Bis heute kennt man keinen solchen Fall.
    »Ist was?« fragt der Soldat.
    »Nein.«
    Jakob dreht sich um und geht. Der Scheinwerfer begleitet ihn, macht ihn auf die Unebenheiten im Pflaster aufmerksam, läßt seinen Schatten immer länger werden, läßt den Schatten die schwere Eisentür mit dem runden Guckfensterchen erreichen und an ihr wachsen, wenn Jakob noch viele Schritte zu gehen hat.
    »Und worum bittest du?« fragt der Soldat.
    Jakob bleibt stehen, dreht sich geduldig um und antwortet:
    »Um eine gerechte Bestrafung.«
    Er schreit nicht, nur unbeherrschte oder respektlose Menschen schreien, er sagt es aber auch nicht zu leise, damit ihn der Mann in dem Licht deutlich über die Entfernung hin verstehen kann, er gibt sich die Mühe, genau den richtigen Ton zu treffen. Man muß merken, daß er weiß, worum er bitten soll, man muß ihn nur fragen.
    Jakob öffnet die Tür, schließt sie schnell wieder zwischen sich und dem Scheinwerfer und sieht auf den langen leeren Gang. Er war schon oft hier, früher hat gleich links neben der Tür ein kleiner Tisch gestanden, dahinter hat ein kleiner Beamter gesessen, seit Jakob sich erinnern kann, immer Herr Kominek, und hat alle eintretenden Besucher gefragt:
    »Womit können wir dienen?« – »Ich möchte meine Steuern für das Halbjahr bezahlen, Herr Kominek«, hat Jakob gesagt.
    Aber Kominek hat so getan, als ob er Jakob noch nie gesehen hätte, obwohl er von Oktober bis Ende April fast jede Woche in Jakobs Diele gewesen ist und dort Kartoffelpuffer gegessen hat.
    »Berufssparte?« hat Kominek gefragt.
    »Kleine Gewerbetreibende«, hat Jakob gesagt. Den Ärger hat er sich nicht anmerken lassen, nicht den geringsten, Kominek hat jedesmal mindestens vier Puffer geschafft, und manchmal hat er noch seine Frau mitgebracht. »Name?« hat Kominek dann gefragt. »Heym, Jakob Heym.« – »Buchstabe F bis K  Zimmer sechzehn.« Aber wenn Kominek zu ihm in die Diele gekommen ist, dann hat er nicht etwa Puffer bestellt, sondern er hat gesagt: »Wie immer.« Denn er war Stammgast.
    An der Stelle, wo früher der Tisch gestanden hat, ist jetzt kein Tisch mehr, aber dort, wo seine Beine waren, sieht man immer noch die vier Abdrücke im Fußboden. Der Stuhl dagegen hat keine Spuren hinterlassen, wahrscheinlich weil er nicht so beharrlich auf ein und demselben Fleck gestanden hat wie der Tisch. Jakob lehnt sich gegen die Tür und ruht ein wenig aus, die letzten Minuten waren nicht leicht, aber was spielt das noch für eine Rolle. Der Geruch in diesem Haus ist anders geworden, irgendwie besser. Der Gestank von Salmiak, der früher auf dem Gang gelegen hat, ist verschwunden, dafür riecht es auf unerklärliche Weise ziviler.
    Ein wenig Leder ist in der Luft, Frauenschweiß, Kaffee und ein Hauch von Parfüm. Ganz hinten auf dem Gang wird eine Tür geöffnet, eine Frau in grünem Kleid kommt heraus, geht ein paar Schritte, sie hat hübsche gerade Beine, sie geht in ein anderes Zimmer, zwei Türen stehen offen, man hört sie lachen, sie kommt wieder aus dem Zimmer, geht zurück, die Türen sind wieder zu, der Gang ist wieder leer. Jakob lehnt immer noch an der Eisentür. Er hat Lust hinauszugehen, vielleicht wartet der Scheinwerfer nicht mehr auf ihn, vielleicht hat er sich etwas Neues gesucht, vielleicht wartet er aber immer noch, es ist ziemlich unwahrscheinlich, daß er nicht mehr wartet, die letzte Frage des Soldaten hat so endgültig geklungen.
    Jakob geht in den Flur. Auf den Zimmertüren steht nicht geschrieben, wer dahinter sitzt, nur Zahlen. Womöglich hat der Wachhabende das Zimmer, in dem früher der Amtsvorsteher gesessen hat, aber das ist nicht sicher, und es empfiehlt sich nicht, an die falsche Tür zu klopfen. Was willst du, eine Auskunft? Habt ihr das gehört, er will eine Auskunft! Wir haben das und das mit ihm vor, und da kommt er hier einfach rein und will eine Auskunft! Hinter der Fünfzehn, einst kleine Gewerbetreibende, Buchstabe A bis E, hört Jakob Geräusche. Er legt sein Ohr an die Tür, versucht zu horchen, kann nichts verstehen, nur einzelne Worte,
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