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Jack Morrow und das Grab der Zeit: Roman (Heyne fliegt) (German Edition)

Jack Morrow und das Grab der Zeit: Roman (Heyne fliegt) (German Edition)

Titel: Jack Morrow und das Grab der Zeit: Roman (Heyne fliegt) (German Edition)
Autoren: Niel Bushnell
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Spiegel zu gucken.
    Sein Vater legte ihm eine Hand auf die Schulter. »Erinnerst du dich an deine Tante Lorna? Du hast sie vor ein paar Jahren kennengelernt.«
    »Nein«, log Jack. Er hatte nicht vor, es Dad leichtzu machen.
    »Na, sie erinnert sich jedenfalls noch an dich, und sie freut sich schon darauf, wenn du bei ihr wohnst, solange ich weg bin. So schlimm wird das gar nicht werden …«
    Jack hörte den Zweifel in der angestrengten Stimme seines Vaters. »Dad, ich will da nicht hin. Ich will nicht zu jemand anderem ziehen. Ich will bei dir bleiben.« Ungewollte Tränen rollten seine geröteten Wangen hinab.
    »Das geht nicht! Nun mach es mir doch nicht schwerer, als es sowieso schon ist.« Sein Vater stand rasch auf und ging zwischen den Gräbern auf und ab. »Mir bleibt nichts anderes übrig, so leid es mir tut. Tante Lorna kommt heute Abend und holt dich ab. Vorher müssen wir noch deine ganzen Sachen packen.«
    Früher war Jack bei seiner Oma geblieben, aber die war letztes Jahr erkrankt und wohnte inzwischen im Pflegeheim. Sie war zu alt, zu vergesslich, zu schwach, um sich weiterhin um ihn zu kümmern.
    Er wischte sich die Tränen von den Wangen; dann sah er zu, wie sie unten auf die nackte Erde fielen und dunkelbraune Flecken hinterließen. Seine Welt um ihn herum brach in Stücke.
    »Du wirst hier für eine ganze Weile nicht mehr herkommen können, Jack. Aber deine Mum und ich werden trotzdem weiter bei dir sein. Das weißt du doch, mein Sohn, oder?«
    »Mum ist tot.«
    Im Gesicht seines Vaters flackerte Zorn auf. Er öffnete den Mund, als ob er Jack anschreien wollte, dann wurden seine Züge weich. Er ging zu dem Grabstein aus Granit. »Sieh dir das Grab deiner Mutter an. Präge dir ein, wie es aussieht. Ganz egal, wie weit wir voneinander entfernt sind, wir können uns immer daran erinnern, wie wir hier zusammen sind. Verstehst du?« Er kam zurück und setzte sich wieder.
    Jack verstand es nicht. Es kam ihm alles total sinnlos und banal vor. Er sah zum Grabstein seiner Mutter, von dem er bereits jede Rundung, jeden Buchstaben auswendig kannte. Er hatte Stunden an ihrem Grab verbracht. Manchmal hatte er mit ihr geredet, als wäre sie immer noch da und würde ihm zuhören. An manchen Tagen – den schlechten – war es schwierig, sich an ihr Gesicht zu erinnern. Er kämpfte um jede verschwommene Erinnerung an sie, aber sie entglitten ihm trotzdem, wie irgendetwas Kostbares, das ihm durch die Finger rann. Er wollte seine Mutter für immer festhalten, wollte jedes Bild deutlich bewahren, jede Farbe und jeden Geruch von ihr. Aber wenn es richtig schlimm wurde, wenn es ihm vorkam, als ob er überhaupt nicht mehr wüsste, wer sie war, dann kam er immer hierher, um ihr wieder nahe zu sein.
    Jack ließ seinen Vater auf der Bank sitzen und trat an das Grab, seine Beine fühlten sich schwach und schwer an. Er kniete sich neben den Grabstein und fuhr mit den Fingerspitzen über die Inschrift. Tief in seinem Innern flammte ganz plötzlich ein weißes, kaltes Licht auf, als würde ein schwerer Vorhang mit einem Ruck von einem sonnenbeschienenen Fenster zurückgezogen werden. Jack zuckte zurück. Einen Moment lang hatte er den Eindruck, in den Stein hineinzufallen, durch seine Oberfläche zu sinken. Dann spürte er eine wehmütige Leere in sich, wie eine Sehnsucht seines Körpers, weiter in den Grabstein zu sinken. Die Erfahrung war schockierend und aufwühlend, und er sah zu seinem Vater, aber der saß immer noch auf der Bank und steckte sich eine Zigarette an, ohne etwas von dem Erlebnis seines Sohnes zu bemerken.
    Jacks Hand bewegte sich fast wie aus eigenem Willen wieder zu dem Stein und berührte die harte Oberfläche. Erneut flammte dieses Licht auf, kälter und stärker diesmal, und das Verlangen, in den Stein hineinzuschlüpfen, erfüllte seinen ganzen Körper. Er musste weinen, als neue Erinnerungen an seine Mutter in ihm aufstiegen. Wie durch ihre Augen sah er sich selbst als zartes Neugeborenes und spürte das Gewicht seines kleinen Körpers in ihren schlanken Armen. Dann war plötzlich sein zweiter Geburtstag, und er konnte den Duft ihres Parfüms riechen, vermischt mit Zigarettenrauch. Jack starrte auf dieses vergessene Kind, diesen Nachhall seines ei genen, aus einer neuen Perspektive gesehenen Lebens. Er hatte keine Ahnung, wie es möglich war, dass er sich auf diese Weise daran erinnerte.
    Als Nächstes war Weihnachten, ihm steckte der Geschmack angebrannter Kartoffeln in der Kehle, und er hörte das
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