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Ivy - Steinerne Wächter (German Edition)

Ivy - Steinerne Wächter (German Edition)

Titel: Ivy - Steinerne Wächter (German Edition)
Autoren: Sarah Beth Durst
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wirklich verstand. Das musste jeder tun, der mit ihr redete. Es konnte nämlich passieren, dass Mom vergaß, wo sie war, einfach irgendwo hinging und sich verirrte. Im Sommer vor zwei Jahren, an der Küste von Jersey, hatte sie darauf bestanden, sich selbst ein Eis zu holen. Eine Stunde später hatten sie sie endlich wiedergefunden. Sie stand eine Meile weiter am Strand vor einem Karussell und sah zu, wie es sich drehte. Als sie fragten, was sie da mache, hatte sie geantwortet: »Ich warte darauf, dass die Pferde davonfliegen.« Seitdem ließ Lily sie nirgendwo mehr gerne allein.
    »Mom … «, begann sie.
    Rose drückte Lilys Hand, ließ sie wieder los und versprach: »Ich werde genau hier sein, wenn ihr zurückkommt.« Dann deutete sie auf den großen Flügel und fügte hinzu: »Ich werde ein bisschen üben!«
    »Du weißt aber schon, dass du gar nicht Klavier spielen kannst?«, fragte Lily.
    »Darum muss ich ja üben, üben, üben!« Sie schüttelte die Finger aus. Lily grinste und küsste ihre Mutter auf die Wange. Mom war schon eine erstaunliche Frau. Ihr Gedächtnis ließ sie nahezu täglich im Stich, und trotzdem fand sie immer noch die Kraft, großzügig und witzig zu sein. »Wenn ihr zurückkommt, werde ich perfekt sein.«
    Grandpa geleitete Lily zu der cremeweißen Tür neben dem Kamin. Mr Mayfair ging voraus. Vor der Tür blieb er stehen und sagte mit gesenkter Stimme: »Sie hat mich nicht mal erkannt.«
    Grandpa antwortete ebenso leise: »Ihr Verfall schreitet schneller voran als erwartet.«
    »Vielleicht sollten wir … «
    »Meine Familie, meine Entscheidung«, unterbrach ihn Grandpa. »Wir müssen jetzt handeln.«
    Einen Augenblick lang musterte ihn Mr Mayfair stumm. Dann nickte er und öffnete die Tür. Und bevor Lily ihren Großvater fragen konnte, was dieser seltsame Wortwechsel zu bedeuten hatte, hörte sie Mr Mayfair verkünden: »Es ist Zeit.«
    In Lilys Magen bildete sich ein Knoten. »Du weißt, ich hasse Überraschungen«, flüsterte sie.
    »Nein, tust du nicht«, flüsterte Grandpa zurück. »Du liebst Überraschungen. Und ich verspreche dir, das wird die beste von allen.« Er hielt ihr die Tür auf. Lily duckte sich unter seinem Arm durch und erstarrte mitten auf der Schwelle.
    In der kleinen Privatbibliothek waren etwa ein Dutzend Männer und Frauen versammelt. Alle hatten eine Haltung eingenommen, als posierten sie für ein Gemälde (»Old Boys in Princeton« schoss Lily sofort als Titel durch den Kopf. Falls es so etwas wie ein Old Boys Network überhaupt gab, dann sah es mit Sicherheit genau so aus). Ein Mann in schwarzem Anzug hatte sich vor einem marmornen Kamin platziert. Die Hände hinter dem Rücken verschränkt, betrachtete er die Asche in der kalten Feuerstelle mit jenem feierlichen Ernst, der Begräbnissen vorbehalten ist. Ein anderer lehnte wie beiläufig am Rahmen eines Bleiglasfensters, in den Händen lässig ein aufgeschlagenes Buch. Lily fiel auf, dass er es falsch herum hielt. Ein dritter, sichtlich beleibt und in fortgeschrittenem Alter, hatte sich in einen thronähnlichen Sessel gequetscht, dessen Armlehnen geformt waren wie Tigerköpfe, und paffte eine Pfeife. Der dicke Rauch schwebte in lässigen Kringeln über seinem Kopf. Auf einer roten Ledercouch saßen vornehm und in tadelloser Haltung zwei Frauen. Eine dritte, in der Hand einen Gehstock mit Elfenbeinknauf, hatte sich in einem Ohrensessel niedergelassen. Andere saßen auf Stühlen und Sofas oder standen neben Bücherregalen.
    Der Raum selbst quoll über von ledergebundenen Büchern und Tiffanylampen. Über dem marmornen Kamin hing ein Ölgemälde – der Heilige Georg im Kampf mit dem Drachen. Das Bleiglasfenster zeigte Ritter und Gelehrte. Sie hatten sich um einen smaragdgrünen Drachen mit rubinroten Krallen versammelt, der eine silberne Kette um den Hals trug.
    Aus dem Hauptraum drang das ungelenke Geklimper von Lilys Mom herüber. Bei einer besonders originellen Tonfolge zuckte einer der jüngeren Männer schmerzhaft zusammen, und Mr Mayfair schloss die Tür.
    Stille senkte sich über den Raum.
    Lily lauschte angestrengt nach dem Klang des Flügels, doch durch die geschlossene Tür drang nicht der kleinste Ton. Nur ihr eigener Atem hallte unnatürlich laut in ihren Ohren wider. Sie fragte sich, warum ein x-beliebiger Raum wie dieser hier so absolut schalldicht war, und warf einen Blick hinüber zu ihrem Großvater. Richard strahlte. Sein Lächeln erinnerte an die Grinsekatze aus Alice im Wunderland . Es wirkte
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