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Isola - Roman

Isola - Roman

Titel: Isola - Roman
Autoren: Arena
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waren. Nur direkt vor meinem Fenster schwebte eine kleine, noch nebelblasse Wolke, deren Form mich an einen fallenden Engel mit ausgebreiteten Armen erinnerte.
    Die Stadt sah aus, als ob sie dem Meer zu Füßen lag und träumte. Sanft und lagunenartig zogen sich die breiten Strandbuchten in das kristallblaue Wasser, auf dessen Oberfläche wie winzige Geisterwesen die Schaumkronen tanzten. Auch die Hochhäuser waren in dieses magische Licht getaucht, die grün bewachsenen Berge glänzten feucht und ich weiß noch, dass ich in diesen unwirklichen Minuten an Gott denken musste; an einen Gott, wie wir Menschen ihn uns meistens vorstellen, der von oben auf die Erde schaut; auf eine friedliche und zauberhafte Welt –in der es von diesem Blickwinkel aus betrachtet kein Leiden gab.
    Es ist eine seltsame Sache mit den Wahrheiten. Von hier oben aus sah man alles – und von hier oben aus sah man nichts. Um zu erkennen, was es für Millionen von Menschen bedeutete, in einer Stadt wie Rio zu leben, musste man hinabsteigen, man musste, wie es so schön heißt, auf dem Boden der Tatsachen landen.
    Das Flugzeug sackte durch ein letztes Luftloch und in diesem Moment fühlte ich, dass ich nicht die Kraft haben würde wegzulaufen. In diesem Moment wusste ich, dass ich mit auf die Insel fahren musste und dass ich weit, unendlich weit davon entfernt war, die Nummer auf der Rückseite des Fotos zu wählen.
    Ich zog den Anschnallgurt enger. Der Druck auf meine Ohren und auf meine Brust war verschwunden, stattdessen breitete sich in meinem Magen eine flattrige Unruhe aus. Mein Herzschlag pochte spürbar gegen meine Rippen, unter mir klappte das Räderwerk des Flugzeugs heraus und ich spürte, wieder, wie wir sanken, tiefer und tiefer. Dann nahm die Maschine eine lang gestreckte Linkskurve, neigte sich noch einmal abwärts, verharrte einen Moment lang in der Luft und glitt schließlich auf das strahlend blaue Meer zu, als wollte der Pilot direkt im Wasser landen. Als wir stattdessen mit einem unsanften Ruck auf der Landebahn aufsetzten, hörte ich um mich herum erleichtertes Aufseufzen. Einige Passagiere klatschten, in der Kabine ging die Innenbeleuchtung an und aus den Lautsprechern ertönte eine Instrumentalversion von Girl from Ipanema , die so fürchterlich klang, dass sie den Namen Musik nicht verdiente. Meine Füße kribbelten und meine Beine fühlten sich vom stundenlangen Sitzen an, als gehörten sie nicht mehr zu mir. In das Lautsprechergedudel mischte sich das Stimmengewirr der anderen Passagiere und der nervöse Drang, endlich ins Freie zu kommen, machte sich im ganzen Flugzeug breit.
    Mit einem müden Lächeln wünschte mir die Stewardess einen angenehmen Aufenthalt in Rio de Janeiro, und als ich die Gangway hinabstieg, drückte sich die feuchte Tropenluft wie ein unsichtbarer Waschlappen auf mein Gesicht, während hinter meinem Rücken noch die Motoren des Flugzeugs lärmten.
    Im Bus, der uns zum Flughafengebäude fuhr, war ich eingepfercht zwischen einer hageren Frau mit verschmiertem Kajalstrich, aus deren roter Lackledertasche der Kopf eines schwarzen Pudels hervorlugte, und einem jungen Mädchen mit Glatze. Obwohl es mir den Hinterkopf zugewandt hatte, wusste ich, dass es ein Mädchen war. Ich erkannte es an seiner zierlichen Figur. Ganz unten am Hinterkopf, direkt über dem glatt rasierten Nacken war ein kleines Tattoo, ein Yin-Yang-Symbol, und als sich der Bus in Bewegung setzte, begann das Mädchen, mit einer leisen, ungewöhnlich hohen Stimme zu summen.
    In meiner Nase war der Geruch von Schweiß und Staub, auf meiner Zunge lag ein feiner metallischer Geschmack, meine Finger waren taub.
    Mit Hunderten von Menschen schleppte ich mich zur Passkontrolle, einem riesigen, durch eine Glastür abgetrennten Raum mit grünem Linoleumboden. Eine Klimaanlage summte, Füße scharrten, hinter mir hörte ich etwas zu Boden fallen, ein hartes Klirren, vielleicht waren es Münzen. Eine Frau fluchte, ein Kind weinte und ein Stück vor mir entdeckte ich Elfes lilafarbenen Schopf. Ihr helles Lachen drang an mein Ohr, eine dunkelhäutige Frau im hellblauen Kittel wischte den Flur, sie sang. Ich hielt Ausschau nach dem Jungen mit dem traurigen Lächeln, aber ich konnte ihn nirgends entdecken.
    Zwei Schlangen hatten sich gebildet; rechts die Brasileiros , links die Estrangeiros , die Fremden. Ein Teil von mir drängte nach rechts, aber dort gehörte ich nicht hin. Seit meinem vierten Lebensjahr hatte ich einen deutschen Pass und der
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