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Irisches Tagebuch

Irisches Tagebuch

Titel: Irisches Tagebuch
Autoren: Heinrich Böll
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liegen die Grenzen von Mathematik, Psychologie und Volkswirtschaft, die Grenzen aller mehr oder weniger exakten Wissenschaften liegen scharf übereinander im Zucken des epileptischen Bettlergesichts: eine zu schmale Basis, als daß ich mich ihr anvertrauen möchte. Aber immer noch sitzt mir die Kälte von Swifts Grab her im Herzen: Sauberkeit, Leere, Marmorfiguren, Regimentsfahnen, und die Frau, die säuberte, was sauber genug war; schön war St. Patrick’s Cathedral, häßlich ist diese Kirche, aber sie wird benutzt, und ich fand auf ihren Bänken, was ich auf vielen irischen Kirchenbänken fand: kleine Emailletafeln, die zu einem Gebet auffordern: Bete für die Seele des Michael O’Neill, der am 17.1.1933 60jährig starb. Bete für die Seele der Mary Keegan, die am 9. Mai 1945 achtzehnjährig starb; welch eine fromme und geschickte Erpressung: die Verstorbenen werden lebendig, ihr Sterbedatum verbindet sich für den, der das Täfelchen liest, mit seinem Erlebnis an diesem Tag, in diesem Monat, diesem Jahr. Mit zuckendem Gesicht wartete Hitler auf die Macht, als hier 60jährig Michael O’Neill starb; als Deutschland kapitulierte, starb achtzehnjährig Mary Keegan. Bete — so las ich — für Kevin Cassidy, der am 20.12.1930 dreizehnjährig starb, und es traf mich wie ein elektrischer Schlag, denn im Dezember 1930 war ich selbst dreizehn Jahre alt: in einer großen, dunklen Wohnung der Kölner Südstadt — herrschaftliches Mietshaus, so hätte man das 1908 noch genannt hockte ich mit dem Weihnachtszeugnis in der Hand; die Ferien hatten begonnen, und ich sah durch eine zerschlissene Stelle des zimtfarbenen Vorhangs auf die winterliche Straße hinunter.
    Ich sah die Straße rötlich gefärbt, wie mit unechtem, mit Bühnenblut beschmiert: rot die Schneehaufen, rot den Himmel über der Stadt, und das Kreischen der Straßenbahn, wenn sie in die Schleife der Endstation einbog, auch dieses Kreischen hörte ich rot. Wenn ich aber das Gesicht durch den Schlitz zwischen den Vorhängen schob, sah ich es, wie es wirklich war: bräunlich die Ränder der Schneeinseln, schwarz den Asphalt, die Straßenbahn hatte eine Farbe, wie schlechtgepflegte Zähne sie haben, das Knirschen aber, wenn die Straßenbahn in die Schleife einbog, das Knirschen hörte ich hellgrün: hellgrün schoß es giftig ins blanke Geäst der Bäume auf.
    An diesem Tag also starb in Dublin Kevin Cassidy, dreizehnjährig, so alt, wie ich damals war: hier wurde die Tumba aufgestellt, Dies irae , dies illa von der Orgelempore herunter gesungen, Kevins erschrockene Schulkameraden füllten die Bänke; Weihrauch, Kerzenhitze, silberne Troddeln am schwarzen Leichentuch, während ich mein Zeugnis zusammenfaltete, den Schlitten aus dem Spind holte, um rodeln zu gehen. Ich hatte in Latein eine Zwei, und Kevins Sarg wurde ins Grab gesenkt.
    Später, als ich die Kirche verlassen hatte und durch die Straßen ging, ging Kevin Cassidy immer neben mir her: ich sah ihn lebend, so alt wie mich selbst, mich selbst für Sekunden als den siebenunddreißigjährigen Kevin: Vater von drei Kindern war er, wohnte in den Slums um St. Patrick herum; bitter war der Whiskey, kühl und teuer, aus Swifts Grab wurde mit Eis auf ihn geschossen: grünblaß war das Gesicht seiner dunkelhaarigen Frau, Schulden hatte er und ein Häuschen, wie es unzählige in London, Tausende in Dublin gibt, bescheiden, zweistöckig, arm; kleinbürgerlich, muffig, trostlos würde der unverbesserliche Ästhet sie nennen (aber Vorsicht, Ästhet: in einem von diesen Häusern wurde James Joyce geboren, im anderen Sean O’Casey).
    So nah war Kevins Schatten, daß ich zwei Whiskey bestellte, als ich in die Einzelsäuferkoje zurückging; doch der Schatten hob das Glas nicht an den Mund, und so trank ich für Kevin Cassidy, der am 20.12.1930 dreizehnjährig starb — ich trank für ihn mit.

4 Mayo — God help us
    In der Mitte Irlands, in Athlone , zweieinhalb Schnellzugstunden hinter Dublin, wird der Zug zu zwei Hälften auseinandergekoppelt, die bessere Hälfte, die den Speisewagen behält, geht nach Galway weiter, die benachteiligte Hälfte, in der wir bleiben, geht nach Westport. Wir würden den Speisewagen, in dem gerade das zweite Frühstück serviert wird, mit noch schmerzlicheren Gefühlen scheiden sehen, wenn wir Geld hätten, englisches, irisches, um ein Frühstück oder einen Lunch zu bezahlen. So aber — da uns zwischen Ankunft des Schiffes und Abfahrt des Zuges nur eine halbe Stunde blieb und die
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