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Irisches Tagebuch

Irisches Tagebuch

Titel: Irisches Tagebuch
Autoren: Heinrich Böll
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die graue Dunkelheit hinein auf die Insel der Heiligen zufuhr.

2 Ankunft II
    Eine Tasse Tee, so bei Sonnenaufgang, wenn man fröstelnd im Westwind steht, während die Insel der Heiligen sich noch im Morgendunst vor der Sonne verbarg; auf dieser Insel also wohnt das einzige Volk Europas, das nie Eroberungszüge unternahm, wohl selbst einige Male erobert wurde, von Dänen, Normannen, Engländern — nur Priester schickte es, Mönche, Missionare, die — auf dem seltsamen Umweg über Irland — den Geist thebaischer Askese nach Europa brachten; vor mehr als tausend Jahren lag hier, so weit außerhalb der Mitte, als ein Exzentrikum , tief in den Atlantik hineingerutscht, Europas glühendes Herz...
    So viele grün-graue Reisedecken waren eng um schmale Schultern gezogen, so viele strenge Profile sah ich und an so manchem hochgeschlagenen Priesterkragen als Reserve die quergesteckte Sicherheitsnadel, an der zwei, drei, vier weitere Nadeln leise baumelten... schmale Gesichter, übernächtigte Augen, im Waschkorb der Säugling, der seine Flasche trank, während der Vater am Teeschalter vergebens um Bier kämpfte. Langsam stach die Morgensonne weiße Häuser aus dem Dunst heraus, ein Leuchtfeuer bellte rotweiß dem Schiff entgegen, langsam schnaufte der Dampfer in den Hafen von Dun Laoghaire . Möwen begrüßten ihn, die graue Silhouette von Dublin wurde sichtbar, verschwand wieder: Kirchen, Denkmäler, Docks, ein Gasometer: zögernde Rauchfahnen aus einigen Kaminen: Frühstückszeit, für wenige nur: noch schlief Irland, Gepäckträger rieben sich unten am Kai den Schlaf aus den Augen, Taxichauffeure fröstelten im Morgenwind. Irische Tränen begrüßten die Heimat und die Heimkehrenden. Namen flogen wie Bälle hin und her.
    Müde taumelte ich vom Schiff in den Zug, aus dem Zug nach wenigen Minuten in den großen dunklen Bahnhof Westland Row , von dort auf die Straße: vom Fensterbrett eines schwarzen Hauses nahm gerade eine junge Frau einen orangefarbenen Milchtopf ins Zimmer; sie lächelte mir zu, und ich lächelte zurück.
    Wäre ich von so ungebrochener Naivität gewesen wie der deutsche Handwerksbursche, der in Amsterdam Leben und Tod, Armut und Reichtum des Herrn Kannitverstan erforschte — so wäre ich in Dublin fähig gewesen, Leben und Tod, Armut, Ruhm und Reichtum des Herrn Sorry zu erforschen, denn wen ich auch fragte, nach was ich auch fragte, ich bekam die einsilbige Antwort: Sorry . Nun wußte ich zwar nicht, aber ahnte, daß die Stunden zwischen sieben und zehn Uhr morgens die einzigen sind, in denen die Iren zur Einsilbigkeit neigen, und so entschloß ich mich, meine geringen Sprachkenntnisse nicht anzuwenden, und fand mich betrübt damit ab, nicht so ungebrochen naiv zu sein wie der beneidenswerte Tuttlinger Handwerksbursche in Amsterdam. Wie schön wäre es gewesen, zu fragen: Wem gehören die großen Schiffe da im Hafen? — Sorry . Wer steht so hoch da droben, einsam im Morgennebel auf einer Denkmalssäule? — Sorry . Zu wem gehören diese zerlumpten, barfüßigen Kinder? — Sorry . Wer ist dieser geheimnisvolle junge Mann, der von der hinteren Plattform des Omnibusses aus so täuschend ähnlich ein Maschinengewehr nachahmt — tak tak tak tak — im Morgendunst? — Sorry . Und wer reitet so früh da mit Stöckchen und grauem Zylinder durch Morgen und Wind? — Sorry .
    Ich beschloß, mehr meinem Auge als meiner Zunge und dem Ohr der anderen zu vertrauen und mich am Studium der Ladenschilder schadlos zu halten, und da kamen sie als Buchhalter, Wirte, Gemüsehändler auf mich zu: die Joyce und Yeats , McCarthy und Molloy , O’Neill und O’Connor, sogar Jackie Coogans Spuren schienen hierhinzuführen , und ich mußte mich entschließen, mir selbst einzugestehen, daß der Mann so hoch da droben auf der Denkmalssäule, immer noch einsam wirkend in der Morgenkühle, natürlich nicht Sorry hieß, sondern Nelson.
    Ich kaufte mir eine Zeitung, eine Zeitschrift, die ›Irischer Digest‹ hieß, und ließ mich von einem Ladenschild, das Bed and Breakfast reasonable versprach, verführen, »vernünftiges Bett und vernünftiges Frühstück« übersetzte ich mir dieses Versprechen, und entschloß mich zunächst zu einem vernünftigen Frühstück.
    Gleicht der kontinentale Tee einem vergilbten Postscheckbrief, so gleicht er auf diesen Inseln westlich von Ostende den dunklen Tönen auf russischen Ikonen, durch die es golden durchschimmert, bevor die Milch ihm eine Farbe ähnlich der Hautfarbe eines
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