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Inspektor Jury steht im Regen

Inspektor Jury steht im Regen

Titel: Inspektor Jury steht im Regen
Autoren: Martha Grimes
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Frau genommen hatte und mit Hilfe eines Taschentuchs festhielt. «Ihre Adresse ist 92, Church Street, Bayswater. Das ist so ziemlich alles, Sir, außer einem Scheckbuch, Scheckkarte und etwas Kleingeld. Mit dem bißchen Geld könnte sie vielleicht einen trinken gewesen sein, meinen Sie nicht?» Er steckte den Führerschein wieder in die Handtasche und ließ sie zuschnappen.
    «Kann schon sein», sagte Jury, während er darauf wartete, daß die Leichenbeschauerin ihre Arbeit beendete. Er wußte, sie haßte Störungen.
    Nachdem er sein Taschentuch schon wegen der Handtasche verwendet hatte, benutzte Wiggins es jetzt, um sich zu schneuzen. «Es ist verdammt feucht. Ich merk schon, es geht abwärts. Irgendwann liege ich flach.» Er klang nachdenklich.
    «Wo Ivy Childess definitiv schon gelandet ist.» Der Regen fiel stetig und ausdauernd, aber die Leichenbeschauerin schien überhaupt nicht darauf zu achten. Die ständigen Krisenfälle hatten ihr hübsches Gesicht so glattgescheuert wie einen Stein unter Wasser.
    «Kann außer am Hals keinerlei Spuren feststellen. Mit ihrem eigenen Schal erdrosselt. Manche Frauen lernen’s nie.»
    Jury lächelte ein wenig. Dr. Phyllis Nancy hatte so eine Art, alles, sogar Leichen, auf geschlechtsbedingte Kriterien hin zu untersuchen. Jury hätte ihr gerne gesagt, daß solche Vorlieben in der Polizeiarbeit inzwischen wohl mehr oder weniger den Weg allen Fleisches, ob männlich oder weiblich, genommen hätten. Doch schien sich Dr. Nancy ihre abwehrende Haltung ebenso zu eigen gemacht zu haben wie ihren Beruf.
    «Wann können Sie die Autopsie vornehmen, Phyllis?»
    Niemand nannte sie Phyllis. Gerade deshalb tat Jury es.
    «Sie warten, bis Sie an der Reihe sind, Superintendent. Ich habe auch einen Terminkalender.»
    «Ich weiß. Ich wäre Ihnen nur dankbar, wenn Sie es vielleicht ein kleines Stückchen nach oben rücken könnten. Wir wissen, wie sie getötet wurde, und es sieht nach Routine …»
    Routine gehörte nicht zu den Worten, die Phyllis Nancy schätzte. Und seine Bemerkung bot ihr, wie Jury genau wußte, eine Gelegenheit, einen kleinen Vortrag zu halten, wozu sie sonst kaum und schon gar nicht vor Superintendents die Möglichkeit hatte. «Die Frau besitzt immerhin noch Haut, Haar, Fingerspitzen, Leber, Bauchspeicheldrüse, Knochen, Gewebe. Sogar ein Herz.»
    «Genau wie Sie, Phyllis.» Er lächelte sie an. Jury hatte Dr. Nancy einmal beim Schaufensterbummel in der New Bond Street entdeckt, als sie vor Dickens and Jones stand und hingerissen die prächtige Auslage der Braut- und Brautjungfernkleider betrachtete. Er hatte gewartet, bis sie weiterging, um sie dann einzuholen und zu einem Drink einzuladen. Phyllis Nancy hätte es entsetzlich gefunden, wenn man sie tagträumend vor der Dickens and Jones-Schaufensterhochzeit – komplett mit Braut, Bräutigam, Spitze und Blumen – erwischt hätte. Er wandte sich von ihr ab, um einem Polizeiinspektor Anweisungen zu geben. Man würde die Straße Zentimeter für Zentimeter absuchen müssen. Dann wandte er sich wieder an Dr. Nancy. «Wann immer es Ihnen möglich ist, Phyllis. Und danke.»
    Sie wandte sich ab, damit er ihr Lächeln nicht sah. Das Ganze war ein kleines Ritual. Wenn er jovial zu ihr war, wie eben ein Mann gegenüber einer Frau, wußte er, daß sie das wahnsinnig genoß. Unter all ihrem Expertentum und dem Panzer steckte eine sehr nette Person, die gerne essen und ins Kino ging oder schöne Kleider kaufte. Sie packte ihre Tasche und schnappte sich ihren Assistenten, sagte, sie würde die Autopsie so schnell wie möglich machen, stieg in einen Wagen und flitzte durch den Regen davon.

3
    E S WAR EIN GEPFLEGTES R EIHENHAUS in einer Wohnstraße mit vielen Maklerschildern und deprimierend gleichförmigen Fassaden. Im frühen Morgenlicht machte die Straße nicht gerade den bestmöglichen Eindruck. Das Haus nebenan war eines von denen, die zum Verkauf standen, offensichtlich unbewohnt, wenn man vom Zustand des Gartens ausging, wo eine kleine Kletterrose sich zwischen Unkrautbüscheln und verrosteten Fahrradfelgen zu behaupten versuchte. Die Vorbauten und Türrahmen mehrerer Häuser hatte man in kräftigen, wilden Farben gestrichen, aber das stumpfe Licht stieß sie in eine Anonymität zurück, in der sich die Rot- und Blautöne kaum voneinander unterschieden und aussahen wie eingetrocknetes, verkrustetes Blut.
    Der kleine Zaun und die Eingangstür des Childess-Hauses trugen noch ein Flaschenbraun, das nach der ursprünglichen Farbe
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