Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
Insel zweier Welten: Roman (German Edition)

Insel zweier Welten: Roman (German Edition)

Titel: Insel zweier Welten: Roman (German Edition)
Autoren: Geraldine Brooks
Vom Netzwerk:
jene zärtlichen und in mir schlummernden Gefühle geweckt wurden, als ich einem Gleichaltrigen begegnete, der diese Sprache sprach. Als ich Caleb damals kennenlernte, verfügte ich bereits über einen großen Schatz an gebräuchlichen Wörtern und Wendungen. Seit damals ist diese Sprache sogar diejenige, in der ich träume.
    Ich erinnere mich, wie ich einmal, als ich klein war, das Wort »Wilde« verwendet hatte und mein Vater mich dafür tadelte. »Nenn sie nicht Wilde. Benutze den Namen, den sie selbst verwenden, Wampanoag. Das bedeutet: Menschen aus dem Osten.«
    Armer Vater. Er war so stolz auf seine Bemühungen, diese schwierigen Wörter auszusprechen; Wörter, die so lang waren, als hätten sie bereits beim Turmbau zu Babel Wurzeln geschlagen und seien seither weitergewachsen. Dennoch hat Vater nie die richtige Betonung gelernt, die doch das wesentliche Merkmal ihrer Sprache ist. Auch begreift er nicht, wie sich die Wörter aufbauen, Laut um Laut, und dabei eigene Bedeutungen entwickeln. Zum Beispiel »Menschen aus dem Osten«: Als würden sie von Osten oder Westen sprechen, so wie wir es tun. Nichts in ihrer Sprache ist so schlicht und gewöhnlich. Wop, ihr Wort für »weiß«, birgt zum Beispiel etwas von jenem ersten milchigen Licht in sich, das den Horizont erhellt, bevor die Sonne aufgeht. Der Schlusslaut wiederum bezieht sich auf lebendige Wesen. Und so würde der Name, mit dem sie sich selbst bezeichnen, richtig in unsere Sprache übertragen lauten: »Volk des ersten Lichts«.
    Seit ich hier geboren wurde, fühle auch ich mich mehr und mehr wie ein Mensch des ersten Lichts. Wir leben hier am äußersten Ende der neuen Welt und werden jeden Morgen Zeuge eines erwachenden Tages der auf unserer sich drehenden Weltkugel heraufdämmert. Für mich ist nichts Seltsames an dem Gedanken, dass jemand an einem einzigen Tag einen Sonnenaufgang und dann einen Sonnenuntergang über der See beobachten kann, obwohl Neulinge schnell mit der Bemerkung zur Hand sind, wie ungewöhnlich das ist. Wenn ich bei Sonnenuntergang in der Nähe des Wassers bin – und hier ist es schwerlich möglich, sich allzu weit davon zu entfernen –, halte ich inne, um zu beobachten, wie die herrliche Sonnenscheibe das Meer in Brand setzt und sich dann selbst in ihren flammenden Fluten ertränkt. Wenn es dann dunkel wird, denke ich an diejenigen, die in England zurückgeblieben sind. Es heißt, für sie rücke das Morgengrauen näher, wenn bei uns das Dunkel naht. Ich denke an diese Menschen, auf die ein neuer grauer Morgen und ein Tag unter dem Joch ihres verwerflichen Königs wartet. Bei unserer Versammlung las Vater uns das Gedicht eines unserer reformierten Brüder dort vor:
    Auf Zehenspitzen gehen wir durchs Land,
    Und träumen von Amerikas schönem Strand.
    Früher habe ich oft ein Gebet für unsere englischen Brüder gesprochen und Gott darum gebeten, ihre Reise hierher zu beschleunigen, und dass ihr Morgen ihnen keine Furcht bringen möge, sondern den Frieden, den wir hier gefunden haben, von leichter Hand geführt durch meinen Großvater und die milde seelische Weisung meines Vaters.
    Wenn ich jetzt darüber nachdenke, fällt mir auf, dass es eine Weile her ist, seit ich dieses Gebet gesprochen habe. Denn Frieden empfinde ich hier nicht mehr.

III
    Mein Niedergang begann vor drei Jahren, in jenem kargen Sommer meines zwölften Lebensjahres. Wie viele Neuankömmlinge an fremdem Ort hatten auch wir zu lange an alten Gebräuchen und Gewohnheiten festgehalten. Unsere Gerste gedieh hier nie besonders gut, dennoch pflanzten die Familien sie weiter an, einfach weil sie es immer getan hatten. Unter großem Kostenaufwand hatten wir ein Jahr zuvor Jungschafe vom Festland gekauft, die hauptsächlich zur Erzeugung von Wolle dienen sollten, denn es lag auf der Hand, dass wir unsere eigenen Kleider produzieren mussten, und Leinen war für die harten Winter hier nicht geeignet. Doch die Aussicht auf Lammbraten zu Ostern war allzu verführerisch, und so brachten wir den Widder zu früh zu den Auen. Dann gerieten wir in die Klauen eines allzu hartnäckigen Winters, der einfach nicht milder wurde, ganz gleich, was auf dem Kalender stand. Und obwohl wir alle versuchten, die neugeborenen Lämmer am Herdfeuer warm zu halten, raubten uns die bitterkalten Winde, die über die Salzwiesen fegten, und der anhaltende harte Frost, der jede Knospe zum Erfrieren brachte, mehr Jungtiere, als wir entbehren konnten. Damals war alles Gemeindeland, und wir hatten
Vom Netzwerk:

Weitere Kostenlose Bücher