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In der Nacht (German Edition)

In der Nacht (German Edition)

Titel: In der Nacht (German Edition)
Autoren: Dennis Lehane
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Schichtende wie die Arbeiter; die Schatten der Frauen wirkten im Sonnenlicht klein gegen die der Staplerfahrer und Schauerleute. Schauerhaken hingen von den Schultern ihrer schmutzigen Jacken; sie redeten laut durcheinander, umkreisten die jungen Frauen, pfiffen und machten Witze, über die nur sie selber lachten. Die Mädchen schienen aber daran gewöhnt zu sein; es gelang ihnen, die Männer loszuwerden. Einige der Burschen blieben zurück, ein paar schlugen andere Richtungen ein, und andere wiederum machten sich auf den Weg zum schlechtestgehüteten Geheimnis, das die Docks zu bieten hatten – ein Hausboot, auf dem Alkohol ausgeschenkt wurde, seit die Sonne zum ersten Mal über dem Boston der Prohibitionszeit aufgegangen war.
    Die Frauen blieben eng beisammen, bewegten sich zügig den Kai hinauf, und Joe bemerkte sie nur, weil ein anderes Mädchen mit derselben Haarfarbe stehen blieb, um seinen Schuh zurechtzurücken, so dass auf einmal Emmas Gesicht in der Menge auftauchte.
    Joe verließ seinen Beobachtungsposten nahe des Ladedocks der Gillette Company und schlenderte den Frauen im Abstand von etwa fünfzig Metern hinterher. Immer wieder sagte er sich, dass sie Albert White gehörte, dass er nicht ganz bei Trost war und sich die Sache endlich aus dem Kopf schlagen musste. Nicht nur, dass es eine Schnapsidee war, Albert Whites Mädchen den Südbostoner Hafen entlang zu folgen; tatsächlich hätte er der Stadt ganz den Rücken kehren sollen, solange er nicht genau wusste, ob ihm jemand den Überfall auf die Spielhölle anhängen konnte. Tim Hickey war unten im Süden, um Rum zu beschaffen, weshalb sie ihn nicht fragen konnten, warum sie bei der falschen Pokerrunde hereingeplatzt waren, und die Bartolos blieben erst einmal in Deckung, bis das Ganze geklärt war – während Joe, vermeintlich der Cleverste von ihnen, hinter Emma Gould herschnüffelte wie ein halb verhungerter Köter, der den Duftschwaden aus einer Küche folgte.
    Schluss jetzt. Finger weg.
    Joe war klar, dass die Stimme recht hatte. Es war die Stimme der Vernunft. Oder zumindest die seines Schutzengels.
     Das Problem war nur, dass ihn nicht irgendwelche Schutzengel interessierten. Er war an ihr interessiert.
    Die Frauen verließen das Hafengelände und trennten sich an der Broadway Station. Die meisten gingen weiter zu einer Bank bei den Straßenbahnhaltestellen, während Emma die Treppe zur U-Bahn nahm. Joe ließ ihr einen kleinen Vorsprung, ehe er ihr durch das Drehkreuz und eine weitere Treppe hinab folgte. Sie stieg in einen Zug, der Richtung Norden fuhr. Der Waggon war überfüllt und stickig, doch er ließ sie keine Sekunde aus den Augen – und das war auch besser so, da sie nur einen Halt später, am Bahnhof South Station, wieder ausstieg.
    South Station war ein Knotenpunkt, an dem drei U-Bahn-Linien, zwei Hochbahnlinien, eine Straßenbahnlinie und zwei Buslinien zusammenliefen. Als er aus dem Waggon stieg, kam er sich einen Moment lang vor wie eine Billardkugel – er wurde hin- und hergestoßen, gerempelt, gerammt, und schon hatte er sie aus den Augen verloren. Er war nicht so groß wie seine Brüder, von denen man den einen sicher nicht übersah, der andere aber ein echter Riese war. Aber Gott sei Dank war er nicht klein, einfach nur mittelgroß. Er stellte sich auf die Zehenspitzen und versuchte dann, sich durch die Menge zu drängen. Er kam zwar kaum voran, doch plötzlich erhaschte er einen Blick auf ihr karamellfarbenes Haar, als sie in den Tunnel einbog, der zur Atlantic-Avenue-Hochbahn führte.
    Er erreichte das Gleis in genau dem Augenblick, als die Wagen einfuhren. Sie stand zwei Türen weiter, als die Bahn die Station verließ und die Stadt auf einmal vor ihnen lag, deren Farben – Blau, Braun, Ziegelrot – in der hereinbrechenden Dämmerung satt schimmerten. In den Fenstern der Bürogebäude: fahlgelbes Licht. Straßenzug für Straßenzug gingen die Laternen an. Die Umrisse des Hafens verschmolzen mit dem Grau des Himmels. Hinter sich das Panorama der Stadt, lehnte Emma an einem Fenster. Mit ausdrucksloser Miene ließ sie den müden Blick ziellos durch den überfüllten Wagen wandern. Ihre Augen waren unwahrscheinlich hell, sogar noch heller als ihr Teint, hatten die Farbe von sehr, sehr kaltem Gin. Ihr Kinn und ihre Nase waren ein wenig spitz und gesprenkelt mit Sommersprossen. Sie wirkte völlig unnahbar, hatte sich hinter einer Maske aus Kälte und Schönheit verbarrikadiert.
    Und was darf ich dem Herrn zu seinem Überfall
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