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In der Nacht (German Edition)

In der Nacht (German Edition)

Titel: In der Nacht (German Edition)
Autoren: Dennis Lehane
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sagte Dion. »Sie konnte nicht lesen.«
    Sie fuhren Richtung Dorchester, gerieten aber vor dem Andrew Square in einen Stau, weil dort ein Gaul verreckt war. Der Verkehr musste um das Pferd und den umgestürzten Eiskarren herumgelenkt werden. Eissplitter glitzerten zwischen den Pflastersteinen wie Metallspäne; der Eismann stand neben dem Kadaver, trat dem toten Tier wütend in die Rippen. Die ganze Fahrt über wollte sie Joe nicht aus dem Kopf gehen. Ihre Hände waren weich und trocken gewesen, die Handflächen klein und rosa, die Venen an ihrem Handgelenk violett. Hinter dem rechten Ohr hatte sie einen Leberfleck, hinter dem linken keinen.
    Die Bartolo-Brüder wohnten in der Dorchester Avenue über einer Metzgerei und einem Schusterladen. Der Metzger und der Schuster hatten Schwestern geheiratet und hassten einander nur unmaßgeblich weniger, als sie ihre Frauen hassten. Was sie aber nicht davon abhielt, in ihrem gemeinsam genutzten Keller ein Speakeasy zu betreiben. Spätabends trudelten Leute aus den anderen sechzehn Pfarrbezirken von Dorchester ein, und manche nahmen sogar den weiten Weg von der North Shore auf sich, um hier den besten Schnaps südlich von Montreal zu trinken und den Herz-Schmerz-Liedern einer schwarzen Sängerin namens Delilah Deluth zu lauschen. Der Schuppen wurde The Shoelace genannt – Der Schnürsenkel –, was den Metzger so auf die Palme getrieben hatte, dass er darüber kahl geworden war. Joe hatte kein Problem damit, dass die Bartolo-Brüder fast jeden Abend im Shoelace anzutreffen waren, doch dass sie auch noch direkt über dem Schuppen wohnten, grenzte an pure Idiotie. So unwahrscheinlich es auch sein mochte – eine einzige Razzia, die von ehrlichen Cops oder Steuerfahndern durchgeführt wurde, und die Chancen standen gut, dass sie auch kurzerhand die Tür zu Dions und Paolos Bude eintreten und dort reichlich Geld, Waffen und Schmuck finden würden, für die zwei Itaker, von denen der eine in einem Kaufhaus, der andere in einem Lebensmittelladen arbeitete, mit Sicherheit keine zufriedenstellende Erklärung parat hatten.
    Zugegeben, für gewöhnlich reichten sie Schmuck und Juwelen gleich an Hymie Drago weiter, den Hehler, mit dem sie seit einer kleinen Ewigkeit zusammenarbeiteten; das Geld jedoch wanderte normalerweise nicht weiter als bis zum Spieltisch im Hinterzimmer des Shoelace oder in ihre Matratzen.
    An die Eiskiste gelehnt, sah Joe zu, wie Paolo seinen Anteil und den seines Bruders ebendort verstaute. Das zurückgeschlagene, von Schweiß gelblich verfärbte Laken gab den Blick auf die Schlitze frei, die sie in die Seite der Matratze geschnitten hatten, und Paolo schob die Geldbündel hinein, als würde er eine Weihnachtsgans stopfen.
    Paolo war dreiundzwanzig und damit der Älteste von ihnen. Obwohl zwei Jahre jünger, wirkte Dion trotzdem reifer als er, vielleicht, weil er smarter, vielleicht, weil er schlicht rücksichtsloser war. Joe, der nächsten Monat zwanzig wurde, war zwar der Jüngste, doch der unangefochtene Kopf des Trios, seit er im zarten Alter von dreizehn Jahren mit den anderen einen Zeitungskiosk ausgeraubt hatte.
    Paolo stand auf und klopfte sich den Staub von den Knien. »Jetzt weiß ich wieder, wo ich sie schon mal gesehen habe.«
    Joe stieß sich von der Eiskiste ab. »Wo?«
    »Zum Glück ist er nicht scharf auf sie«, sagte Dion.
    »Wo?«, wiederholte Joe.
    Paolo deutete auf den Boden. »Unten.«
    »Im Shoelace?«
    Paolo nickte. »Sie war mit Albert da.«
    »Welchem Albert?«
    »König Albert von Montenegro«, sagte Dion. »Oder was glaubst du?«
    Leider gab es in Boston nur einen einzigen Albert, dessen Vorname bereits ausreichte, um zu wissen, wer gemeint war. Albert White, dessen Spielhölle sie gerade ausgeraubt hatten.
    Albert hatte während der Moro-Rebellion auf den Philippinen gekämpft und war anschließend in den Polizeidienst eingetreten, dann aber nach dem Streik von 1919 entlassen worden, so wie auch Joes älterer Bruder. Momentan betrieb er die Automobilwerkstatt White Garage and Automotive Glass Repair (ehemals Halloran’s Tire and Automotive), White’s Downtown Café (ehemals Halloran’s Lunch Counter) und die Spedition White’s Freight and Transcontinental Shipping (ehemals Halloran’s Trucking). Es ging das Gerücht, er hätte Bitsy Halloran höchstpersönlich umgelegt. Bitsy hatte sich in einer Telefonzelle in einem Rexall-Drugstore am Eggleston Square elf Kugeln eingefangen. Die vielen Schüsse aus nächster Nähe hatten die
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