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In der Mitte des Lebens

Titel: In der Mitte des Lebens
Autoren: Margot Käßmann
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bewegendes Buch über den Tod ihrer Mutter geschrieben. 9 Es
     macht deutlich, wie sehr der Abschied von der eigenen Mutter uns selbst mitnimmt in einen Prozess des Nachdenkens über Leben und Tod, wie das Vergangene,
     ja auch die Geschwisterbeziehungen, wieder Raum gewinnen und wie das Sterben unserer Eltern uns selbst betrifft. De Beauvoir, die alles so gern im Griff
     hat und kontrolliert, hat einen Weinkrampf, nachdem sie die hilflose Mutter mit offenem Mund hat daliegen sehen, ausgeliefert an die Mechanismen eines
     Krankenhausablaufs. Ihr Freund Jean-Paul Sartre nimmt das als Veränderung an ihr selbst wahr: »Ich hätte meinem Gesicht das meiner Mutter aufgesetzt, und
     ob ich wollte oder nicht, ich ahmte seine Bewegungen nach. Ihr ganzes Wesen und ihr ganzes Dasein verkörperte sich darin und Mitleid mich.« 10
    Diese Passage aus ihrem Buch finde ich höchst berührend. Denn die Erfahrung, dass in meinen Zügen sich eben doch die Züge meiner Eltern spiegeln, ob ich es will oder nicht, ist oft eine Erkenntnis, die uns verändert. Eine Freundin sagte mir einmal, sie habe sich ganz fest vorgenommen, völlig anders zu werden als ihre Mutter. Und dann habe sie eines Tages in den Spiegel geschaut und gedacht: »Du siehst aus wie deine Mutter!« Wenn wir das sehen können, ist es vielleicht auch leichter, Frieden zu schließen mit den Erinnerungen an unsere Eltern, die nicht so einfach sind, zu denen auch die Brüche gehören manchmal bis hin zu Verwerfungen.
    Äußerst anrührend ist auch, nachzulesen, wie Simone de Beauvoir als Tochter im Rückblick wahrnimmt, wie sehr die Mutter sich um sie und ihr
     »Seelenheil« gesorgt hat. Sie selbst hatte sich von der Religion abgewandt. Die Mutter aber sagt: »Freilich möchte ich in den Himmel kommen, aber nicht
     ganz allein, nicht ohne meine Töchter«. 11 – Dass wir in der Mitte des Lebens sanftmütiger auf frühere
     Auseinandersetzungen schauen, ist wohl auch eine verbreitete Erfahrung. Wir sehen unsere Eltern in einem milderen Licht als im stürmischen Alter der
     Jugend, das alles besser weiß, oder der jüngeren erwachsenen Jahre, in denen wir noch meinen,vieles besser machen zu können. Simone de
     Beauvoir schreibt: »Die Veränderungen, die sich während der Krankheit an Mama vollzogen, machten meine Reue noch bitterer.« 12
    Wahrscheinlich ist eines der Probleme unseres Abschieds von den Eltern, zumal wir im Umgang mit Leiden und Tod so wenig geübt sind, zumal wir es in
     unserer Gesellschaft ja auch kaum sehen, weil es vor allem in speziellen Räumen stattfindet. Meine älteste Schwester hat mir vor Kurzem ein Buch
     geschenkt, das sich ausgehend von Albrecht Dürers Kohlestichzeichnung seiner kranken alten Mutter – er hat es zwei Monate vor ihrem Tod gezeichnet – mit
     Schönheit, Alter und Tod im Bild der Renaissance befasst. 13 Es handelt sich dabei um das »erste Realporträt
     eines hinfälligen, leidgeprüften Menschen in der europäischen Kunstgeschichte.« 14 Das bedeutet doch, dass ein
     Ausweichen vor dem Tod, der Versuch, das Hinfällige nicht zu sehen, gar kein Phänomen unserer Zeit erst ist. Schon immer war es angenehmer, schöne, junge
     Menschen auf der Höhe ihrer Kraft zu sehen und nicht den Verfall, das Alter, Siechtum. Dann doch hinzusehen mit Liebe, das kann auch eigene Kraft
     geben!
    In Bremerhaven habe ich vor Kurzem eine Ausstellung unter dem Titel »Noch einmal leben vor dem Tod« eröffnet. Walter Schels hat Menschen kurz vor und kurz nach ihrem Tod fotografiert – mit deren Einverständnis selbstverständlich. Die Journalistin Beate Lakotta hat die Begegnungen einfühlsam geschildert. Mich haben diese Bilder, die auch als Buch dokumentiert sind 15 , sehr bewegt. Der Tod hat etwas Friedliches, die Toten drücken auch Erlösung aus. Wer hinsieht, verliert auch etwas von der Angst vor dem Tod.
    Vielleicht wagen wir ja heute, hinzusehen, weil wieder bewusster mit dem Tod umgegangen wird. Die Hospizbewegung ist dafür ein hervorragendes
     Beispiel. Ebenso die Patientenverfügungen, mit denen wir vorab regeln können, wie wir die letzten Schritte selbst gehen wollen. Wir können unsere Eltern,
     beziehungsweise die Elterngeneration auf den letzten Wegen begleiten, und das können wir besser, wenn wir uns mit der eigenenEndlichkeit
     auseinandersetzen. Auch das gehört sicher zur Kunst des Alterns, dem Gedanken an den eigenen Tod nicht panikartig auszuweichen. Wenn wir das tun, wird das
     unseren Umgang mit den Alten im Land
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