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In der Mitte des Lebens

Titel: In der Mitte des Lebens
Autoren: Margot Käßmann
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die eher streng wirkte und Disziplin forderte, und des Vaters, der
     eher lebenslustig war und mir – das Allergrößte! – ab und an im Goldenen Hahn ein »Jägerschnitzel mit Pommes und Salat« spendierte oder auch
     einen Mohrenkopf in der Tankstelle zukommen ließ. Die Disziplin und Strenge haben mir oft geholfen im Leben, aber ebenso die Lebenslust und der Humor. So
     sind wir alle auf je eigene Weise Erbinnen und Erben unserer Eltern.
    In der Mitte des Lebens neu über Geschwisterbeziehungen nachzudenken, finde ich spannend. Die große Nähe – jedenfalls immer die äußere, und nicht
     selten auch die innere – während derKindheit, auch das ist etwas, das sich ändert. »Kinderreiche Familien bilden (…) ein Gegenmodell
     zur Moderne« 5 , stellt Rüdiger Peukert fest. Beim Betrachten beispielweise der Geburtsjahrgänge von Frauen von
     1935 bis 1967 und ihrer jeweiligen Kinderzahl wird deutlich, dass sich die Zahl der Kinder pro Frau deutlich verschoben hat. In den Geburtsjahrgängen der
     1930er- und 1940er-Jahre dominierten größere Familien mit drei und mehr Kindern. Von den 1935 geborenen Frauen bekamen noch 59 Prozent drei und mehr
     Kinder. Doch mit ihrem stärkeren und anhaltenden Rückgang – im Geburtsjahrgang 1967 bekamen nur noch 21 Prozent der Frauen drei und mehr Kinder – hat
     sich der Anteil der Zwei-Kind-Familien von 12 Prozent (Geburtsjahrgang 1935) auf 31 Prozent (Geburtsjahrgang 1967) erhöht. Das heißt: Heute wachsen 38
     Prozent der Kinder ohne Geschwister auf, 46 Prozent mit einem Bruder oder einer Schwester, 13 Prozent mit zwei und nur noch vier Prozent mit drei oder
     mehr Geschwistern. 6
    Bei einer großen Geschwisterschar fällt es Eltern wahrscheinlich leichter, loszulassen, weil phasenweise immer wieder ein anderes Kind einmal näher,
     einmal etwas ferner ist. Bei einem Kind ist der Ablösungsprozess ein tiefer Abschied, kein längerer Weg, sondern eher ein Punkt, der nicht wirklich
     flexibel ist.
    Das Loslassen der Kinder eröffnet aber eben auch die Möglichkeit, offen zu sein für Neues, neue Beziehungen, neue Schwerpunkte im Leben. Und
     wunderbarerweise werden die Eltern-Kind-Beziehungen heute ja wesentlich positiver wahrgenommen als früher. Mit erwachsenen Kindern entstehen auch für die
     Eltern neue Bezüge in der Beziehung. Da wird nicht mehr erzogen, es können Erfahrungen ausgetauscht werden. Ich merke zurzeit, dass ich von meinen
     Töchtern Neues lerne, wie sich durch ihre Interessen ganz andere Themen und Zusammenhänge in meinem Leben auftun. So bringt das Loslassen auch eine große
     Chance für eine neue Beziehungsebene zu den Kindern, es bringt neue Freiräume für die Eltern und neue Annäherungen an Geschwister oder Menschen ohne
     Kinder.
Eltern begleiten
    Verwirf mich nicht in den Tagen des Alters;
    wenn meine Kräfte schwinden, verlass mich nicht. 7
    Als eine Mitarbeiterin in meiner Landeskirche in den vorzeitigen Ruhestand ging, sagte sie mir: »Eigentlich hätte ich gern bis 65 gearbeitet. Aber meine Tochter hat ein Kind, sie ist allein und braucht meine Hilfe. Mein Mann ist schon seit fünf Jahren im Ruhestand, er möchte, dass ich da bin. Und meine Schwiegermutter ist inzwischen pflegebedürftig.« Mich hat das damals ein wenig bedrückt. Leitende Männer, die ich in den Ruhestand verabschiede, erzählen mir meist von großen neuen Plänen. Sie wollen einen Segelschein machen, eine Gemeinde in Südafrika betreuen, Spanisch lernen, ein Haus bauen. Frauen sind oft in soziale Verpflichtungen eingebunden.
    Soziologen sprechen bei 30-Jährigen von der » Rushhour des Lebens«. Ich denke inzwischen, die zieht sich biografisch deutlich länger hin. Es sind die 50-Jährigen, die manches Mal ihre noch in der Ausbildung oder im Studium oder in Teilzeitjobs befindlichen Kinder unterstützen. Oft übernehmen sie zusätzlich schon Verantwortung für Enkel, und gleichzeitig erleben sie, dass ihre eigenen Eltern auf sie angewiesen sind und Unterstützung benötigen.
    Gewiss, auch das ist sehr unterschiedlich. Die Eltern der einen sterben schon früh, bei anderen sind sie bis ins hohe Alter unabhängig; bei einigen
     sind die Eltern lange pflegebedürftig, andere sterben plötzlich. Und doch kennt die Mitte des Lebens ein gemeinsames Grundgefühl: diese Sorge für die
     Jüngeren und für die Älteren zugleich. In diesem Grundgefühl unterscheiden sich berufstätige Frauen gar nicht so sehr von Frauen, die sich ganz für die
     Arbeit in der Familie
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