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In der Mitte des Lebens

Titel: In der Mitte des Lebens
Autoren: Margot Käßmann
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ohne jedes Murren. Und damit geht der Sohn davon, verlässt sein Elternhaus. Biblische Geschichten können ziemlich aktuell sein. Der Sohn verprasst das Erbe, es wird eine Zeit gedauert haben. Am Ende »wird nichts« aus ihm. Da zieht es ihn zurück zum Elternhaus. Und der Vater freut sich. Er feiert ein großes Fest, weil sein Sohn zurückgekommen ist. Keine Bitterkeit, keine Vorwürfe – ein Bild für Gottes unendliche Güte.
    Das Problem hat der zweite Sohn. Er hat ausgehalten, hat gearbeitet auf dem Hof, den Vater versorgt und ertragen, eigene Wünsche hintangestellt. Und nun fragt ihn der Vater, ob er die Freude über die Heimkehr seines Bruders wirklich nicht teilen kann. Das ist der springende Punkt bei diesem Gleichnis: die überwältigende Güte des Vaters, die Sinnbild ist für die Liebe Gottes zu den Menschen.
    Spannend aber ist eben auch, den Blick auf die Geschwisterbeziehung zu lenken. Vor einiger Zeit habe ich ein Buch über die
     »Mütter der Bibel« 4 geschrieben und bin dabei auf viele interessante biblische Geschwisterbeziehungen
     gestoßen. Geschwister haben großen Einfluss auf das Leben, das wissen auch die Geschichten der Bibel. Das ist prägend für die gemeinsame Kindheit. Es gilt
     aber auch für die Mitte des Lebens, weil nur sie die gleichen Erinnerungen bis zurück zum Anfang teilen. Und im Gespräch können wir feststellen, wie
     verschieden diese gleichen Erinnerungen sind!
    Meine beiden Schwestern sind fünf und sieben Jahre älter als ich. Es gab noch einen Bruder, der drei Jahre älter war, aber noch als Säugling
     starb. Manches Mal staunen wir, wie unterschiedlich unsere Erinnerungen sind. Und dann bin ich weiter dankbar, dass es Onkel und Tanten, Cousinen und
     Cousins gibt, mit denen wir unsere Kindheitserinnerungen teilen können und merken: Sie sind sogar noch vielfältiger, als wir schon dachten. Wie es
     »wirklich« war, ist gar nicht so klar zu sagen! Ich habe an diesen Gesprächen gemerkt: Der Rückblick wird immer auch von der Gegenwart bestimmt. Wir haben
     Bilder in unseren Köpfen, die uns prägen. Das ist nicht schlimm, das muss auch nicht zu Konflikten führen, aber es ist auch bewegend, das Vergangene mit
     denen zu betrachten, die es geteilt haben. Sich gemeinsam erinnern können, tut gut. Und in der Mitte des Lebens finden Geschwister nicht selten wieder
     näher zueinander, weil die gemeinsame Erinnerung kostbarer wird, zumal wenn die Eltern sterben.
    Auf der gemeinsamen Rückfahrt von einer Dienstreise fragte ich vor Kurzem den Kollegen, der mich begleitete, ob er mit mir einen Abstecher machen würde
     zu dem Haus, in dem ich aufgewachsen bin. Ich wollte sehen, ob es noch steht … Diese Begegnung mit »Zuhause« war irgendwie anrührend und befremdlich
     zugleich. Das Haus mit der Autowerkstatt meines Vaters, mit dem Garten meiner Mutter, den Akazien und den Autoreifen auf dem Hof, mit dem Sandkasten, der
     Schaukel und dem Hundezwinger, es war die Welt meiner Kindheit. Ich war glücklich dort, habemich frei gefühlt, konnte mich nach eigenem
     Belieben bewegen, kannte nicht die Grenzen, wie sie die Kinder heute beim Aufwachsen erfahren. Die Erwachsenen hatten zu tun, sie waren beschäftigt mit
     Aufbau, Arbeit, Geld verdienen. Es gab gewisse Grundregeln: »Pünktlich zum Essen!«, zum Beispiel. Aber ansonsten war es eine freie heile Welt für
     mich. Meine Schwestern haben das anders erlebt. Vielleicht, weil sie einfach älter waren und stärker in die Verantwortung genommen zu einer Zeit, als ich
     ganz Kind sein konnte. Geschwisterfolgen prägen, das weiß die Soziologie heute.
    Als wir da nun standen, vor diesem heute so klein erscheinenden Häuschen, an dem geteerten Hof, den ich großartig fand, als ich Fahrrad fahren lernte,
     der Autogarage, dem leicht verfallen wirkenden Platz, vor der Enge, die mir Kind ein riesiger Freiraum war, sagte der Kollege: »Du bist einen weiten Weg
     gegangen von hier bis ins Bischofsamt«. Das ist mir lange nachgegangen. Ein weiter Weg, ja – aber wahrscheinlich war entscheidend diese Erfahrung der
     Freiheit. Es war kein hochintellektuelles Elternhaus, aber ein Ort der Geborgenheit, wo dem einzelnen Kind etwas zugetraut wurde, der Eigenständigkeit
     gefördert hat und so ein Denken über Grenzen hinweg ermöglichte. Unsere Eltern haben Bildung als hohes Gut gesehen und alles daran gesetzt, dass ihre
     Töchter Abitur machen konnten.
    Ich sehe mich selbst heute immer bewusster als Mischung meiner Eltern, der Mutter,
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