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In den Trümmern des Himmelsystems

In den Trümmern des Himmelsystems

Titel: In den Trümmern des Himmelsystems
Autoren: Joan D. Vinge
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wälzte sich unruhig herum, vom Klingeln des Telefons aus dem Schlaf gerissen. Er schaltete das Licht ein, gerade so hell, daß er die Form des Telefons ausmachen konnte, und aktivierte es. „Ja?“ Er sah Lije MacWongs mahagonifarbenes Gesicht auf dem Schirm erscheinen, richtete sich in seinem Bett auf und stützte sich mit einem Ellbogen ab.
    „Tut mir leid, daß ich Sie wecken muß, Wadie.“
    Er grinste. „Das hoffe ich auch.“ MacWong stand gern früh auf. Wadie sah auf die Digitaluhr im Gehäuse des Telefons. „Benötigt jemand zu dieser nachtschlafenen Stunde einen Verhandlungsführer? Schlafen die Leute eigentlich niemals?“
    „Ich hoffe, sie schlafen augenblicklich alle … sind Sie allein?“
    Wadie blickte über seine Schulter zurück, betrachtete Kimorus gebräunte, schlanke Seite, den Wirrwarr ihres schwarzen Haares. Sie seufzte im Schlaf. Er sah zurück zum Bild MacWongs und erkannte an dem mißbilligenden Blick der blauen Augen, daß MacWong die Antwort bereits kannte. Er verbarg seine Verärgerung und sagte: „Nein. Das bin ich nicht.“
    „Setzen Sie die Kopfhörer auf.“
    Wadie gehorchte und brachte die Hauptlautsprecher zum Verstummen. Er lauschte stumm; es dauerte einige Sekunden, bis MacWong ihn aus seinem Halbschlaf zu reißen vermochte. „Bin da, so schnell ich kann.“
    Er sprang aus dem Bett, schwebte in der geringen Gravitation halb zum Bad, wo er sich wusch und rasierte. Als er zurückkam, saß Kimoru aufrecht im Bett, die Decke bis zum Kinn emporgezogen. Sie blinzelte vorwurfsvoll, ihre Augenlider zeigten ein zartes Lila.
    „Wadie, Liebling …“ – ein Hauch von Groll – „es ist noch nicht einmal Morgen! Warum stehst du schon auf – bin ich so langweilig im Bett?“ Ein Hauch Verzweiflung.
    „Kimoru.“ Er durchquerte den komfortabel eingerichteten Raum und küßte sie flüchtig. „Es ist höllisch von dir, mir so etwas zu sagen. Die Pflicht ruft, ich muß gehen … du weißt, ich hasse es, früh aufzustehen. Besonders wenn du hier bist. Schlaf unbesorgt weiter, ich werde zurückkommen und mit dir frühstücken – oder zu Mittag essen, wenn dir das lieber ist.“ Mit einer Hand knöpfte er sich das Hemd zu, mit der anderen tätschelte er ihre Wange.
    „Nun, also gut.“ Sie schlüpfte wieder unter die Bettdecke. „Aber komm nicht so spät. Du weißt, ich muß in fünfzig Kilbseks einen Kunden für den alten Chang und seine Gesellschaft betreuen.“ Sie gähnte. Ihre Zähne waren sehr weiß und spitz. „Ich verstehe nicht, warum du dir keinen ehrbaren Beruf zulegst. Nur ein Mann von der Regierung würde einen Stundenplan wie deinen haben wollen – oder akzeptieren müssen.“
    Oder eine Geisha …? Er zog sich weiter an und sprach es nicht laut aus; er wußte, sie hatte keine andere Wahl, und sie daran zu erinnern war unnötig und taktlos. Einer Frau, die wegen genetischer Defekte sterilisiert worden war, standen nur sehr wenige Wege offen, in einer Gesellschaft, die eine Frau vor allem als potentielle Mutter sah. Wäre sie mit einem verständnisvollen Ehemann verheiratet, einem, der bereit wäre, sich mit einer Kontraktmutter zufriedenzugeben, könnte sie ein normales Leben führen. Aber eine Frau, die wegen Sterilität geschieden war – oder eine unverheiratete, sterile Frau –, hatte nur zwei Möglichkeiten: entweder eine niedere, unerfreuliche Arbeit zu tun, ständig der Strahlung der schmutzigen Atombatterien aus der Zeit vor dem Krieg ausgesetzt, oder als Geisha zu arbeiten und somit die Kunden einer Gesellschaft zu unterhalten. Das war zwar Prostitution, doch es war akzeptiert. Eine Geisha hatte nur wenige Rechte und kaum Prestige, doch sie hatte Sicherheit, eine komfortable Umgebung, schöne Kleider und ausreichend Geld, das ihren Unterhalt sicherte, wenn die Blüte ihrer Jahre vorüber war. Es war eine sterile Existenz, doch physische Sterilität ließ keinen anderen Ausweg.
    Wadie kannte die Alternativen, daher konnte er weder verurteilen noch richten. Und gelegentlich fiel ihm ein, auch er hatte, als er beschloß, für die Regierung zu arbeiten, eine Karriere gewählt, die die Leute noch weniger respektierten als die formelle Prostitution – und auch eine Karriere, die sein Leben so bar aller echten Beziehungen machte wie das einer Geisha. Er sah an seinem eigenen Bild im Spiegel vorbei auf die bereits wieder schlafende Kimoru; einer ihrer schlanken Arme griff unbewußt in die nun leere Seite des Bettes. Er hatte keine Kinder und keine Frau. Die
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