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In allertiefster Wälder Nacht

In allertiefster Wälder Nacht

Titel: In allertiefster Wälder Nacht
Autoren: Amy McNamara
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zurückwerfen, lässig wirken, so als ob er ganz schiefliegen würde.
    »Nein, mir geht’s gut.«
    Kauft er mir nicht ab. Er schüttelt den Kopf.
    »Ich finde, du solltest jetzt nicht allein sein.«
    »Dann komm eben kurz mit rein.« Mit einem Ruck mache ich meinen Arm frei.
    Er folgt mir nach drinnen.
    »Ich muss mich erst mal sauber machen«, sag ich und lass ihn im Eingang stehen. Ich geh in mein Zimmer. Ein Drecksloch. Meine Klamotten liegen alle auf dem Boden. Ich hab die Wäsche nicht gemacht. Auf der Suche nach einem T-Shirt, einem Kapuzenshirt, einer Jeans wühle ich mich durch einen Haufen. Schnuppere schnell dran. Nichts riecht allzu übel. Im Badezimmer stelle ich mich dem Spiegel. Dreckstreifen vom Weinen laufen mir über die Wangen, und meine Haare sehen aus, als hätte ich ein paar Wochen gecampt.
    Kaltes Wasser ins Gesicht bringt die Augen wieder zum Vorschein, aber die Haare bleiben ein hoffnungsloser Fall. Egal. Mir macht das ja nichts. Vielleicht törnt ihn das ab. Vielleicht lässt er mich dann in Ruhe. Mit den Fingern kämme ich mir einen Pferdeschwanz.
    Als ich wieder rauskomme, steht er noch immer an der Haustür, angelehnt, und guckt höflich, aber besorgt. Gott, wie oft ich diesen Ausdruck in den letzten paar Monaten gesehen habe! Ob ich ihm wohl Angst mache? Die Vorstellung bringt mich beinahe zum Lachen. Vielleicht hält er mich für verrückt. Vielleicht bin ich das.
    »Oh, sorry. Ich wollte dich da nicht so stehen lassen. Komm rein.«
    Ich bedeute ihm, ins Wohnzimmer zu gehen. Mein Dad besitzt eine Menge Kunstwerke, Stücke, die er über Jahre gesammelt hat, Sachen von Freunden, aber abgesehen davon sieht es aus, als ob hier ein Mann wohnt. Allein. Eine völlig fertige Couch und ein alter roter Samtsessel. Wie aus dem Boden geschossene Büchertürme und die alten Zeitungen von mindestens einem Monat. Vor dem Fenster steige ich über einen Stapel davon hinweg. Ehrlich, das ist eine Erleichterung, nach der gepflegten Eleganz im Stadthaus meiner Mutter. Hier gibt’s keine Putztruppe.
    Cal durchquert das Wohnzimmer auf Krücken. Schaut zur Fensterwand hinaus auf den Atlantik. Schwarze Nacht da draußen, aber das Haus ist dunkel, und irgendwie kann man raus aufs Wasser schauen, der zunehmende Mond spiegelt seine Sichel auf dem Meer.
    »Ich hatte vergessen, wie toll dieses kleine Haus ist«, sagt er. »Als ich letztes Mal hier war, war ich noch ein Kind.« Er geht wieder durch den Raum, setzt sich auf die durchhängende Couch und legt die Krücken neben sich auf dem Boden ab.
    »Ich hab es auf den ersten Blick geliebt«, sage ich, gucke aus dem Fenster, egal, wohin, nur nicht zu ihm. Tu so, als hätte ich ihn eben nicht angestarrt, frag mich, warum er Krücken benutzt, wenn es doch so aussieht, als könne er ganz gut laufen.
    All die Sachen, die mein früheres Ich gesagt hätte, schweben herum, umflattern mich, glitzernd und nutzlos wie Lametta. Sie verfolgt mich, dreist, naiv, denkt ununterbrochen darüber nach, was sie ihm über sich erzählen könnte, um interessant zu erscheinen – und was sie für sich behalten sollte.
    »Ich kann mich nicht daran erinnern, dass du hier warst, als dein Dad eingezogen ist«, sagt er. Wahrscheinlich hofft er, dass ich was sage, wenigstens versuche, ein Gespräch zu führen. »Er hat eine kleine Party gegeben. Unsere Familie war da. Ich weiß noch, wie ich hier mit meinem Bruder herumgelaufen bin.«
    »Sie haben sich getrennt … als ich klein war. Mein Dad hat sie verlassen – uns verlassen –, weil er hierherziehen und arbeiten wollte.«
    Ich will ganz locker wirken, normal klingen. Damit er sieht, ich bin okay. Damit er geht. Vergisst, wie ich ausgesehen habe, da vor der Tür. Nicht, dass ich was drauf gebe, was er denkt. Tu ich nicht. Werd ich auch nicht.
    Ich knipse eine kleine Lampe an und unser Ausblick aufs Wasser verschwindet im Schwarz. Jetzt ist das Fenster ein Bild von uns. Ich wende mich ab, setze mich auf die breite Armlehne des Sessels neben der Couch.
    »Unser Haus ist im Grunde ein früherer Entwurf von diesem hier.« Er spielt mit, ganz als ob ich ihm nicht in Gestalt einer Irren auf der Auffahrt begegnet wäre. »Im Laufe der Jahre sind die Arbeiten meines Vaters immer schlichter geworden. Jedes Projekt ein bisschen besser, ein bisschen reduzierter als das vorherige.«
    Todesstille. Das Geistermädchen ist weg. Ich kann keinen Small Talk machen. Ich schau mich im Raum um.
    Sein Blick folgt meinem. Die Stille scheint ihm nicht
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