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Imperator

Imperator

Titel: Imperator
Autoren: Stephen Baxter
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keine Ahnung …«
    Cunovic verstand allmählich immer besser, was Brica sagte. Es waren nur ein paar Zeilen, wie Knittelverse, die sie unablässig wiederholte. Ihm kam der Gedanke, dass jemand ihre Worte niederschreiben sollte. Er sollte es tun, schließlich war er das einzige des Schreibens kundige Mitglied der Familie. Er suchte seinen Beutel, zog eine Tafel und einen Griffel heraus und begann zu kritzeln. Die Kinder beobachteten ihn mit großen Augen; die Buchstaben, die im Wachs erschienen, mussten ihnen wie Zauberei vorkommen.
    Nectovelin machte ein finsteres Gesicht und wandte sich an Ban. »Angesichts einer solchen Geburt und einer Mutter, die Lateinisch plappert, liegt bereits ein Fluch auf seinem Leben. Nenne ihn, wie du willst, Ban. Er wird kein Krieger sein.«

    In Ban schien etwas zu zerbrechen. »Du überheblicher alter Mann!«, brüllte er. »Kannst du denn selbst in einem solch fürchterlichen Moment an nichts anderes denken als an dich? Ich habe keine Zeit für dich und deinen uralten Krieg. Caesar ist längst tot, und das wirst du auch bald sein, und dann wird man dich und deine Prahlereien vergessen!«
    Einen schrecklichen Augenblick lang dachte Cunovic, der riesige Nectovelin werde seinen Enkel niederschlagen. Aber Nectovelin starte Ban nur so lange an, bis dieser den Blick abwandte. Verachtung verhärtete sein zernarbtes Gesicht, und er verließ das Haus.
    »Wir müssen sie aufschneiden.« Inmitten des Mysteriums von Bricas Geschnatter und des streitsüchtigen Gebarens der Männer sprach müder Pragmatismus aus Sulas Stimme. »Ban hat recht. Wir müssen das Kind befreien, bevor sie alle beide sterben.« Die anderen Frauen nickten und rückten näher.
    Sula hob ein Messer aus Feuerstein in die Höhe. Dieses Geschenk der Erde war das traditionelle Werkzeug für solch verzweifelte Momente, und seine sorgfältig gearbeitete Schneide war schärfer als das beste brigantische Eisen, ja sogar besser als römischer Stahl, wie Cunovic wusste.
    Brica schrie auf, als sich die steinerne Klinge in ihr Fleisch bohrte. Ban biss sich auf die Lippe; er war sich der Gefahren bewusst.
    Bricas Sturzbach lateinischer Wörter versiegte jedoch immer noch nicht; Cunovic kritzelte weiter auf seine Tafel. Die Wörter waren seltsam, rätselhaft und
unzusammenhängend: haushohe Pferde  … kleinen Griechen  … toter Marmor  …
    Cunovic dämmerte allmählich, dass dies eine Beschreibung der Zukunft – oder einer Zukunft – war, eine Schilderung von Ereignissen, die erst eintreten konnten, wenn er und Brica und sie alle schon längst tot waren. Voller Furcht stellte er sich einen Zauberer in einer dunklen Zelle vor, irgendwo in der Vergangenheit oder der Zukunft, der dafür sorgte, dass sich in diesem Augenblick, in dem Geburt und Tod im Gleichgewicht waren, die fremdartigen Wörter in den Kopf der hilflosen Brica ergossen – einen Zauberer, einen Weber, der die Fäden der Geschichte verwob, Fäden, die Menschenleben waren. Aber warum?
    Cunovic wusste nicht, ob er dem Guten oder dem Bösen diente, indem er diese Wörter niederschrieb – doch nachdem er einmal angefangen hatte, merkte er, dass er nicht aufzuhören wagte. Und als die Worte im Wachs Gestalt annahmen, Worte in einer Sprache, die Brica unmöglich kennen konnte – Worte in der Sprache des mächtigsten Reiches der Erde –, versuchte Cunovic, seine eigene abergläubische Furcht zu unterdrücken.

ERSTER TEIL
INVASOREN
43–70 N. CHR.

I
    Agrippina und ihre drei Begleiter ritten auf den Dünenstreifen zu, der die Küste säumte.
    Der Mittag nahte. Die vom Sonnenlicht getränkte Luft schmeckte herb wie bei einem Gewitter, und Agrippina spürte, wie sich ihre Haut in der sanften Brise straffte. Sie roch bereits das Salz in der Luft und meinte, das Rauschen der Wellen zu hören. Die vier hatten einen Landstreifen überquert, der bei Flut unter Wasser stand, um zu dieser Beinahe-Insel zu gelangen, und nun umgab sie das Meer von allen Seiten.
    Am Rand der Dünen stiegen sie von den Pferden und ließen sie frei, damit sie nach Futter suchen konnten. Das Pferd, das Agrippina und ihren Bruder Mandubracius trug, ein geduldiger alter Wallach, den sie ritt, seit sie fünfzehn war, würde sich nicht weit entfernen. Dasselbe galt bestimmt auch für Nectovelins muskulöses Tier: Nicht einmal ein Schlachtross würde ihrem kriegerischen Vetter den Gehorsam verweigern. Cuneddas Stute jedoch war weitaus launischer, obwohl sie den Ritt zum Strand ebenso genossen hatte
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