Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
Immer wenn er mich berührte

Immer wenn er mich berührte

Titel: Immer wenn er mich berührte
Autoren: Heinz G. Konsalik
Vom Netzwerk:
ausgerückt.
    Als Janine in Tempelhof die Halle betrat, stand ihr Entschluß fest. Ja, sie würde nach Marokko fliegen. Kein Telegramm schicken. Nichts. Einfach vor der Tür stehen.
    Sie lief zum Schalter der Air France. »Kann ich noch einen Platz in der Maschine nach Frankfurt haben?«
    »Sie haben Glück, gnädige Frau«, antwortete das Mädchen. »Die Maschine ist an sich ausgebucht, aber es ist eben angerufen worden, daß Dr. Servatius nicht fliegt … Sie können seinen Platz haben.«
    »Glück muß man auch mal haben«, sagte Janine leise. Und sie wandte dabei schnell ihr Gesicht ab, damit man die Tränen in ihren Augen nicht sehen konnte.
    Janine landete als Passagier einer zweimotorigen Maschine am 13. Dezember um 22 Uhr 17 in der südmarokkanischen Stadt Marres.
    Für europäische Verhältnisse war der Flughafen von Marres ein Witz. Eine dreckige Baracke, Staub und ein Cola-Automat, das war alles. Gott sei Dank gab es wenigstens ein paar Mietautos. Und die Fahrer sprachen Französisch.
    Janine ließ sich in das nächstbeste Hotel fahren. Mitten in der Nacht wollte sie doch nicht bei Claudette auftauchen. Morgen früh konnte sie ja erst mal anrufen. Hier ist Janine, würde sie mit einer möglichst fröhlichen Stimme sagen, du kannst gar nicht erraten, wo ich bin …
    Der Chauffeur setzte sie im Hotel Mirabelle ab. Sie achtete während der Fahrt nicht auf die Straßen, durch die sie fuhren, nicht auf das alte und das neue Marres, nicht auf die Gestalten, die überall herumlungerten – sie wollte das alles lieber bei Tage besichtigen.
    Das Mirabelle war ein altes, nicht sehr schönes Hotel. Von außen sah es fast baufällig aus. Innen wurde ein gewisser orientalischer Luxus aufrechterhalten.
    Janine betrat das Hotel um elf Uhr. Sie gab ihren Paß ab und bekam das Zimmer 16 im Erdgeschoß. Das war alles Zufall. Denn sie gehörte genau wie die andern Menschen in diesem Hotel zu der Masse der Ahnungslosen, die nicht wußten, daß die Sekunde Null auf sie zuraste.
    Janine öffnete in ihrem Zimmer zuerst mal die Fenster und ließ die kühle, angenehme Luft herein. Sterne glänzten am Himmel, es war ein friedliches Bild.
    Janine war noch nicht müde. Sie beschloß, in die Halle zurückzukehren und nachzusehen, ob das Mirabelle nicht eine Bar hatte, in der man sich einen Cocktail mixen lassen konnte.
    Als sie aus ihrem Zimmer trat, sah sie über den Flur einen kleinen Jungen kommen. Sie blieb gerührt stehen.
    Barfuß, in einem zitronengelben Schlafanzug, einen zerrupften Teddybären fest umklammernd – so marschierte der Knirps auf sie zu.
    War er vier oder fünf Jahre alt? Er hatte die bezaubernde Hautfarbe der Mischlingskinder, schwarze Haare, große dunkle Augen, Kulleraugen, in deren Wimpern Tränen hingen.
    Schluchzend und in akzentfreiem Französisch trug er sein Problem vor: Papa und Maman waren weg, hatten ihn allein im Zimmer gelassen, und er war aufgewacht und hatte Angst …
    Janine tröstete ihn. »Papa und Maman sind sicher nur im Speisesaal. Die kommen bestimmt jeden Augenblick zurück.« Und sie setzte lächelnd hinzu: »Aber im Schlafanzug kannst du nicht in den Speisesaal gehen.«
    Der Junge wischte sich die Tränen aus dem Gesicht.
    »Wie heißt du denn?«
    »Charles«, sagte er.
    »Nun, Charles, du bist doch schon ein so großer Junge. Auch wenn Papa und Maman mal schnell aus dem Zimmer gehen, deshalb fürchtest du dich doch noch lange nicht?«
    »N… non.«
    »Na, siehst du.« Janine nahm ihn bei der Hand. »Du zeigst mir jetzt dein Zimmer, und ich bringe dich wieder in dein Bett.«
    Das war um elf Uhr dreiunddreißig.
    Charles' Zimmer lag in der Dépendance, einem seitlich angebauten, ebenerdigen Hoteltrakt. Dahin gingen sie, Janine und der kleine Charles mit den Kulleraugen.
    Plötzlich aber blieben sie stehen und sahen sich erschrocken an. Ein dumpfes Grollen ließ sie aufhorchen, ein deutliches Zittern der Erde ließ sie erschauern.
    Janine zog den Jungen fest an sich und begann mit ihm zu laufen. Instinktiv suchte sie im Augenblick der Gefahr das Freie.
    Sie sah die Tür schon, die Schwingtür, die ins Freie führte, da begann der Boden zu schwanken und die Wände rissen auseinander, die Erde schien sich zu spalten und alles zu verschlingen, Donner und Blitz, Feuer und Staub – alles auf einmal schien über Marres gekommen zu sein.
    Janine umklammerte das Kind, und ein irrer Schrei kam aus ihrem Mund. Vor ihnen tat sich plötzlich ein Abgrund auf. Der schwarze Schlund der Erde,
Vom Netzwerk:

Weitere Kostenlose Bücher