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Immer Schön Gierig Bleiben

Immer Schön Gierig Bleiben

Titel: Immer Schön Gierig Bleiben
Autoren: Rob Alef
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bis zum Mundwinkel und von dort über das Kinn. An der Kinnspitze verharrte der Schweißtropfen einen Moment, dann fiel er nach unten auf die Trainingsmatte. Eine glattpolierte Hantel – 2,28 Meter lang, 28 Millimeter Durchmesser – ruhte sicher auf Dorfners Schlüsselbeinen. Links und rechts hatte er je eine große blaue und eine große grüne Scheibe aufgelegt. Zweimal dreißig Kilo, dazu die Hantel, die zwanzig Kilo wog. Dorfner war gerade dabei, etwas mehr als sein eigenes Körpergewicht zu stoßen. Er blies die Backen auf und drückte die Arme zur vollen Streckung nach oben. Die Hantel hob sich über seinen Kopf, er zog das rechte Bein nach vorn – seinen Ausfallschritt machte er immer mit dem linken –, drückte die Knie durch, zählte im Kopf:
ein großer schwarzer Chevy, zwei große schwarze Chevys, drei große schwarze Chevys
.
    »Uaaarrgh!« Die Hantel rauschte zu Boden, Dorfner machte einen Sprung und schwenkte die Faust, so dass seine Knöchel die Zimmerdecke streiften. Schweißtropfen schwirrten in alle Richtungen davon und leuchteten in der Morgensonne.
    Wie recht er doch damals gehabt hatte, gleich eine Dreiraumanstelle einer Zweiraumwohnung zu mieten. So konnte er sich einen Bereich für das tägliche Training in den eigenen vier Wänden einrichten und musste nicht ins Fitnessstudio gehen. Musste sich nicht an Öffnungszeiten halten, musste sich nicht mit tätowierten Anabolikafressern um die Freihanteln streiten oder sich von Türstehern ihre Heldentaten vom Wochenende berichten lassen. In seinem Bootcamp war Dorfner an jedem Tag des Jahres sein eigener Herr. Das Bootcamp war das größte Zimmer der Wohnung. Hätte hier ein Paar oder eine Familie gewohnt, wäre es das Wohnzimmer gewesen. Mit einem Flachbildfernseher und einer Couchgarnitur und einem Glastisch zum Nüsschendraufstellen, wenn man mal Gäste hatte.
    Aber Dorfner hatte keine Gäste. Dorfner hatte einen Satz Kurzhanteln. Er bewahrte sie in der hinteren Ecke des Bootcamps in einem Originalgestell des Herstellers auf. Wenn er auf seiner Übungsbank vor der Spiegelwand saß, konnte er jede Regung seines Muskelapparats korrigieren. Seine Bewegungen sollten nicht nur furchteinflößend wirken, sondern elegant, fließend und leicht. Nicht nur Angst und Schrecken hervorrufen, sondern auch Bewunderung und Verlangen.
    Neben den Kurzhanteln hing der Sandsack in einer soliden Konstruktion aus hochbelastbarem Leichtmetall. Der Sandsack war eine High-Tech-Trainingsmaschine. In einer Klarsichthülle hing da ein Foto von Dorfners Vorgesetztem, Hauptkommissar Pachulke. Pachulke, der Dorfner im Dienst keine Schusswaffe tragen ließ. Pachulke, der Dorfner immer zu schwachsinnigen Aufträgen abkommandierte, die verhinderten, dass er rausdurfte. Raus auf die Straße, um dort Recht und Gesetz durchzusetzen. Das Recht des Stärkeren und das Gesetz der Straße, das war es, wofür Dorfner trainierte. Wie gern hätte er sich in die Bresche geworfen, wenn jemand in Gefahr war, sein Leben riskiert, andere Leben geopfert. Aber Pachulke sprach ihn vor den Kollegen absichtlich mit »Mein lieber Dorfner« an und überreichte Dorfner kackbraune Hängemappen, die ihn tagelang am Schreibtisch festnagelten.
    Der Sandsack hatte ein hochkompliziertes Innenleben. Verschiedene Sensoren maßen die Kraft jedes einzelnen Faustschlags, zählten die Schläge, nahmen die Zeit, erstellten Profile der Aufschlagsmuster, alles mit dem Ziel, Wucht und Präzision zu verbessern.
    Diesen Sandsack hatte Schädelspalter, einer von Dorfners Kumpeln, für ihn eingerichtet. Schädelspalter hieß eigentlich Olaf, was zum Teil erklärte, warum er so an seinem Spitznamen hing. Vor allem war Schädelspalter ein Ehrenname. Früher war er bei der Fremdenlegion Spezialist für Fernzünder und Sprengfallen gewesen, irgend so ein Computerkram eben. Jetzt war er Motivationscoach und verkaufte Soft- und Hardware für den ambitionierten Einzelkämpfer.
    Schädelspalter hatte Dorfner auch den Tipp mit dem Foto von Pachulke gegeben. »Du reizt dein Potential nicht mal annähernd aus, Dorfner. Häng doch mal ein Foto von jemand auf den Sandsack, der dir nahesteht, aber die Dinge anders sieht als du. Du wirst staunen, wie du dann abgehst.«
    Also hatte Dorfner in einem unbewachten Moment ein Foto von Pachulke gemacht, wie er hinter seinem Schreibtisch saß und ein Salamibrötchen kaute. Müde und übergewichtig mit vollgestopften Backen hatte er dagesessen und in einer kackbraunen Hängemappe gelesen. Kein
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