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Immer Schön Gierig Bleiben

Immer Schön Gierig Bleiben

Titel: Immer Schön Gierig Bleiben
Autoren: Rob Alef
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den Senegal, lange bevor es Navis und Google Maps gab.
On the road
.
    Noch früher hatte er mal Biologie studiert. Nach zwei Semestern hatte er begriffen, dass er sich lieber lebendige Tiere ansah, als hauchdünne Präparate aus den Larven von
drosophila melanogaster
herzustellen. Es gab ein Leben nach der Fruchtfliege. Er wollte die Welt sehen und heuerte bei einem Busunternehmen an. In der Estremadura besuchte er Kraniche –
grus grus
– in ihrem Winterquartier, in Graubünden beobachtete er stundenlang Steinadler –
aquila chrysaetos
.
    Dann, eines Tages auf dem Heimweg von Brindisi, achtzig Kilometer vor dem Brenner, hatte eine Bandscheibe gezwickt. Mit zusammengebissenen Zähnen hatte er die Tour beendet und überlegt, was er machen sollte. Er hatte Glück gehabt. Die BVG suchte Fahrer mit Berufserfahrung.
    Hier in der Stadt gab es keine Adler, aber in Lübars und am Wannsee lebten Kranich und Reiher, in Tegelort Schwarzspecht und Bussard. Er hatte Frau und Tochter, mit denen er mehr Zeit verbringen konnte.
    Die Buslinie 104 führte quer durch die Stadt. Überall sah Grellert Tauben, Elstern, Tauben, Krähen, Tauben, Meisen, Tauben, Amseln, Tauben, Spatzen und Tauben. Hier in Stralau lebten Enten, Blässhühner und ein Zaunkönig. Vom Westend nach Treptow, Brindisi war das nicht, aber besser als diese Stummeltouren mit gerade mal zwanzig Stationen war der 104er in jedem Fall. Auf den kurzen Routen wurde Grellert auf die Dauer bekloppt, weil er immer hin- und herfuhr, wie ein Tiger im Käfig. Der 347er war so eine Stummeltour, die war er natürlich auch schon gefahren. Der 104er, das war die alte Welt, Funkturm, Ku’damm, Rathaus Schöneberg. Der 347er fuhr durch die neue Welt, Ostbahnhof, Warschauer Straße und vorbei an dem alten Reichsbahngelände an der Revaler Straße, wo die Freaks hausten, mit ihrer pochenden Musik zu jeder Uhrzeit.
    Völlig sinnlos, mit einem leeren Bus durch die Gegend zu gurken. Bei dieser Tour hätte er ein Pferd durch die Stadt kutschieren können, niemand hätte es gestört. Aber ganz früh war er wenigstens an jeder Haltestelle pünktlich. Das war ein Problem beim 104er. Weil er sich einmal quer durch die Stadt wühlte, kam er eigentlich immer zu spät. Ein Rollstuhlfahrer brauchte die Rampe, jemand parkte in der zweiten Reihe, eine Baustelle, schon gab es eine Minute obendrauf. Die Minuten läpperten sich, und die Menschen an den Haltestellen sahen sauer und gequält aus, wenn er endlich ankam. Manchmal fiel eine Tour auch gänzlich aus.
    Nur die Enkel waren niemals böse:
Opabus, Opabus
, riefen sie. In Linum war er mit den beiden schon gewesen, auch da konnte man Kraniche sehen. Dem Älteren wollte er zu seinem Geburtstag eine Wanduhr mit Vogelstimmen schenken.
Luscinia megarhynchos
war auch dabei. Immer um vier. Zu jeder vollen Stunde eine andere Vogelstimme. Konnte man nachts aber auch abstellen. Die Kinder sollten jedenfalls Vogelstimmen erkennen können und die Uhr lesen, obwohl heute alles digital war.
    Der Schrei, der durch die kühle Luft gellte, stammte von keinem Vogel. Er war schrill, langgezogen und brach so plötzlich ab, als habe man einen Schalter umgelegt. Das war ein
homo sapiens
, vermutlich weiblich, der Schrecken hatte ihr die Kehle zugeschnürt. Grellert sah zum Friedhof hinüber. Zwischen den Grabsteinen wimmerte es. Die alte Frau stolperte durch die kleine Tür und knallte sie so heftig hinter sich zu, dass sie wieder aufsprang. Sie hinkte auf Grellert zu. Ihr Dutt hatte sich gelöst, und das graue Haar fiel ihr in langen Wellen über die Schultern. Grellert hatte plötzlich das Gefühl, als erinnere er sich genau, wie die Frau ausgesehen hatte, als sie jung gewesen war. Merkwürdigerweise war ihm das peinlich. Es war in ihrem Lebensplan nicht vorgesehen, dass sie ihr Haar vor einem Busfahrer öffnete. Die blutende Platzwunde an der Stirn war ihr zugestoßen, genauso wie das, was ihr auf dem Friedhof Todesangst eingeflößt hatte.
    Ihr Blick fing sich in Grellerts Augen. »Sie ist tot«, schluchzte die alte Frau. »Sie ist tot.« Sie hob die Schultern, und ein Zittern durchlief ihren Brustkorb.
    Grellert nahm sie in die Arme. Die alte Frau roch nach Mottenkugeln und frischer Erde. Die zweite Tour auf der Buslinie 104 fiel heute aus.

2
    Ein Schweißtropfen bildete sich auf der Stirn des Kriminalassistenten zur besonderen Verwendung Dorfner. Er folgte der blonden, sorgfältig gezupften rechten Augenbraue bis zur Nasenwurzel, rollte über den Nasenflügel
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