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Immer diese Gespenster

Immer diese Gespenster

Titel: Immer diese Gespenster
Autoren: Paul Gallico
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hatte der alte Lord Paradine als einer der letzten, großen, stolzen Aristokraten gelebt.
    In diesem Zimmer war Lord Paradine vor zwei Jahren im Alter von achtzig Jahren gestorben. Die enormen Erbschaftssteuern brachten die Familie an den Rand des Ruins. Nur Isobel, die Tochter, die ihr Leben mit ihm geteilt hatte, wußte, wie sehr der alte Mann den Paradine Country Club verabscheut hätte, den ihr Bruder gründen mußte, um das Schloß erhalten zu können; sie allein wußte, wie sehr er die Fremden gehaßt hatte, die nun gegen Bezahlung in seinem Haus wohnen durften.
    Die Nachttischlampe warf nur ein schwaches Licht auf die Porträts früherer Paradines — Frauen, Männer und Kinder — in zeitgenössischer Kleidung. Es spiegelte sich in den polierten Mahagonischränken, Kommoden, Tischen und Spiegeln. Im Dämmerschein sah Isobel eine der beiden Sevres-Vasen auf dem Kaminsims sich nach vorn neigen und, wie von einer unsichtbaren, böswilligen Hand gestoßen, auf den Steinplatten vor dem Kamin in tausend Stücke zerspringen. Im nächsten Augenblick folgte die zweite Vase, die noch schwungvoller nach vorn flog, doch auf dem dicken Teppich landete und daher keinen Schaden nahm.
    Isobel blieb aufrecht im Bett sitzen, ohne sich zu rühren, die Hände über der Brust gekreuzt, während sie ihre Jacke enger um die Schultern zog. Sie gab auch keinen Laut von sich, als die unsichtbaren, teuflischen Hände eine elegante Queen-Anne-Kommode mit lautem Gepolter umwarfen, so daß das Holz splitterte.
    Dann brach vor den Augen der beherrschten Frau ein uralter Spiegel in vergoldetem Rahmen entzwei, und das Glas fiel klirrend zu Boden.
    Doch die nächste und letzte Erscheinung entrang ihren Lippen einen Schrei: Das Porträt des verstorbenen Lord Thomas Paradine löste sich jäh vom Haken und fiel schräg zu Boden, so daß eine Ecke des schweren Goldrahmens beschädigt wurde. Es blieb halb aufgerichtet stehen und blickte sie aus dieser schiefen Stellung an. Isobel zog hörbar den Atem ein und murmelte: «Vater», und dann leiser «o Vater!» In diesem Augenblick wurde die Tür aufgestoßen, und Mitglieder der Familie, die durch den Lärm geweckt worden waren, erschienen in hastig übergeworfenen Morgenröcken.
    Isobel, die ungerührt und furchtlos in ihrem Bett thronte, schaute zu, wie sie hereinstürzten und sprachlos vor Schreck in das wilde Durcheinander starrten, das sich ihren Augen bot. Da war Isobels Bruder John, kurz und dick, den kleinen Mund von einem Schnurrbart verdeckt, und neben ihm Enid, seine rothaarige Frau, die sie nicht ausstehen konnte. Auch ihr Neffe und ihre Nichte, Mark und Beth, die erwachsenen Kinder der Paradines, hatten sich eingefunden sowie die aufgedunsene, schwammige Gestalt ihres zweiten Neffen, der Vetter Freddie genannt wurde und nach Mark der nächste Erbe des Titels war.
    Bevor noch jemand ein Wort sagen konnte, ließen sich im Korridor weitere Schritte vernehmen, und die beiden Gäste der Paradines erschienen. Der eine war Sir Richard Lockerie, ein langjähriger Freund und Nachbar, der den Sommer über in Paradine Hall wohnte, während Lockerie Manor umgebaut wurde. Der andere Gast war die junge Amerikanerin Susan Marshall, eine Freundin von Beth, die ebenfalls den Sommer bei den Paradines verbrachte. Es war typisch für Isobels Selbstbeherrschung, daß sie selbst angesichts der Bedrohung durch unsichtbare Mächte bemerkte, wie Sir Richard und Susan sozusagen gleichzeitig hereinkamen, und daß es ihr erneut auffiel, wie ungewöhnlich schön das dunkelhaarige amerikanische Mädchen trotz des Schreckens war, der sich in ihrem Gesicht widerspiegelte. Es war kurz vor zwei Uhr.
    Lord Paradine faßte sich zuerst. «Mein Gott, Isobel, was ist passiert? Ist dir etwas zugestoßen?» Und dann redeten alle durcheinander, und doch wirkten sie so starr wie sie selbst, vielleicht weil sie sie so scharf musterte, ohne sich zu rühren. Isobel konnte ihre Gedanken lesen und wußte, was sie bewegte — Erstaunen, Furcht, Besorgnis, Verwirrung —, doch ihre eigenen Gedanken blieben den andern verborgen.
    Lord Paradine rief noch einmal: «Ist dir etwas zugestoßen, Isobel?»
    Endlich antwortete sie. «Nein, nichts.»
    Dann fand auch Sir Richard die Sprache wieder und sagte: «Um Himmels willen, Isobel, was hat sich denn hier zugetragen?»
    Isobel musterte alle mit ihren hellen Augen und erwiderte: «Etwas, was nicht im Bereich des Menschlichen liegt. Eine Warnung. Bald wird die Nonne in Paradine Hall
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