Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
Im Zeichen der Sechs

Im Zeichen der Sechs

Titel: Im Zeichen der Sechs
Autoren: Mark Frost
Vom Netzwerk:
Rasiermesserbreite abschliff, die ja die Existenz eines jeden Mannes überschattete.
    Nicht, daß Doyle Mitgefühl für die Strapazen des neugewonnenen Reichtums erwartete, so wenig sein tatsächliches Vermögen auch den Spekulationen der Leute entsprechen mochte – der Abstand war in der Tat beträchtlich. Nein, wie er sich gebettet hatte, so lag er nun und machte große Augen. Er begriff immer noch nicht, wieso das Geld nur wenige Augenblicke nach seinem Eintreffen schon wieder jäh ausging – oft für lächerliche Dinge, die sich auf der Stelle daranmachten, Staub anzusammeln oder den geordneten Rückzug anzutreten, indem sie in Schränken, Pappschachteln, Wagenschuppen oder Müllbergen verschwanden –, aber so war es. Und das bei einem geborenen Schotten, einem Mann, dem der Sinn für Sparsamkeit in jeder Faser seines Wesens steckte und der sich sein Leben lang heldenhaft bemüht hatte, alles Unnötige und Extravagante zu vermeiden.
    Es hatte keinen Sinn, sich dagegen zu sträuben: Die Wanderlust des Geldes mußte als unverrückbares Naturgesetz respektiert werden. Man rackerte sich ab, um so viel zu verdienen, daß die elementarsten biologischen Bedürfnisse – nach Wärme, Nahrung, Behausung und Sex – befriedigt werden konnten. Und um sich für diese Knochenarbeit zu belohnen, warf man die verbliebene Barschaft für ganz unwesentlichen Luxus zum Fenster hinaus. War hernach die Erfüllung der Grundbedürfnisse ernstlich in Frage gestellt, sah man sich unversehens genötigt, das ganze verdammte Geschäft wieder von vorn zu beginnen, gefangen in den unerbittlichen Klauen des genetischen Geschicks, als Lachs stromaufwärts zu schwimmen, um zu sterben.
    Eine Woche auf See: Lieber Gott, wie sehr er sich darauf freute. Diese mahlenden Alltagskopfschmerzen für eine Weile hinter sich zu lassen. Daß sich die Verantwortlichkeiten wie Steine in den Hosentaschen sammelten, merkte man ja erst, wenn man schwimmen gehen wollte. Allein die obligatorische Korrespondenz, die er in einer Woche zu erledigen hatte – im Durchschnitt sechzig Briefe pro Tag – würde genügen, um einen Mann unter Wasser zu ziehen.
    Und welch ein gewaltiges Fluchtfahrzeug war dieser großartige Dampfer mit seiner verschwenderischen Pracht, ein Koloß, der sich durch die Wogen pflügte, beinahe immun gegen die Tücken von Wind und Wetter – eine kultivierte und würdevolle Erfahrung im Gegensatz zu den beengten Fregatten und Schaluppen, auf denen er als junger Schiffsarzt gesegelt war. Fünfzehn Jahre war das nun her; aber diese langen Monate auf See erschienen ihm jetzt wie ein Traum, den er vor hundert Jahren gehabt hatte.
    Er stellte einen Fuß in die Reling und sah zu, wie England zurückwich. Dann zog er sein neues Fernrohr auseinander und richtete es auf die Promenade, die unterhalb des Hafens den Strand von Southampton säumte. Touristen saßen wie in einer Parade auf den Plankenstegen vor den Badeorten und genossen die gesunde Luft. Er zog das Glas scharf und sah die Wolldecken, die sie sich über den Schoß gebreitet hatten, sah die schwarzen Tücher vor den Mündern der Schwindsüchtigen in ihren Rollstühlen …
    Der Anblick versetzte ihm einen Stich. Keine drei Monate war es her, daß er seine Frau Louise in einem solchen Rollstuhl auf einem Spazierweg in der Schweiz entlanggeschoben hatte. Kalt und blau der Himmel, hoch aufragend die Berge – wie groß war sein Widerwille gegen die majestätische Gleichgültigkeit dieser unerschütterlichen Felsen gewesen, und wie hatte er die standardisierte, herablassende Munterkeit gehaßt, mit der das Sanatoriumspersonal Louise behandelt hatte …
    Schließlich hatte er eine von ihnen, eine plattgesichtige österreichische Krankenschwester, beim Arm gepackt und geschüttelt: Sie reden mit der Krankheit! Reden Sie mit ihr! Hier sitzt ein Mensch im Rollstuhl! Louise war verlegen geworden, und die Frau war mit flatternden Händen zurückgewichen. Gehaßt hatte er sie alle! Sie kannten seine Frau nicht, unternahmen keinen Versuch, sie zu gewinnen, würdigten nicht einen Augenblick lang, was sie bereits gelitten hatte, diese großherzige, tapfere, gutmütige Frau.
    Warum wenden sich die Menschen von dem Leiden ab? Die Verwüstungen der Krankheit sind grausam, und es ist schwer, sie mitanzusehen; wie oft mußte er sich selbst vorwerfen, sich hinter die Maske ärztlicher Autorität zurückgezogen zu haben, während der Mensch, der vor ihm gesessen hatte, weit mehr als alle Medizin einen
Vom Netzwerk:

Weitere Kostenlose Bücher