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Im Wald der stummen Schreie

Im Wald der stummen Schreie

Titel: Im Wald der stummen Schreie
Autoren: Jean-Christophe Grange
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früh nicht nur ein Opfer gewesen war.
    »Du hast als Kind deine Adoptiveltern, die Garcías, umgebracht.«
    »Während ich sie opferte, lief Porque te vas im Radio ...«
    »Du hast die Überlebenden in den Sümpfen zu Kannibalen gemacht.«
    »Da brauchte ich mir keine große Mühe zu geben. Ihre Regression war bereits in vollem Gange.«
    »Du hast in dieser Gruppe Gewalttätigkeit, Grausamkeit und die bestialischsten Instinkte hervorgelockt ... Dein Leben stand von Anfang an im Zeichen des Blutvergießens.«
    Der alte Palin schnaubte mit gekrümmtem Zeigefinger:
    »Das ist unsere Armee, juanita. Der Kern der Gewalt ... Vergleichbar einem Reaktorkern. Wir haben uns in die Vergangenheit zurückversetzt. Wir sind zurückgekehrt in die uranfängliche Nacht. Wir sind dazu verdammt, den Gründungsakt zu wiederholen. Immer wieder ... Den Inzest. Den Vatermord. Den Kannibalismus. Dies ist mein Leib ... Dies ist mein Blut ... «
    Das Zimmer drehte sich um sie. Ihr wurde schwindlig. Wenn sie jetzt ohnmächtig wurde, war sie erledigt.
    Joachim stürzte sich auf sie, hielt dann aber abrupt inne.
    Sie hatte ihre HK USP 9 mm auf sein Gesicht gerichtet.
    Die einzige Sache, von der Antoine Féraud nichts wusste.
    Die Bestie verharrte reglos und neigte den Kopf in einer bizarren Weise zur Seite. Jeanne wich zum Fenster zurück und öffnete es. Zwei Gedanken, fast gleichzeitig. Der erste: Sie hatte die Waffe nicht durchgeladen. Der zweite: Sie hatte sie nicht entsichert.
    Ihre 9 mm war ungefähr so gefährlich wie eine Spritzpistole.
    Falls einer der Barbaren sich gegen sie wandte, wäre sie tot.
    Jeanne stieg durch das Fenster und zielte dabei weiterhin auf die Horde.
    »Du hast keine Chance gegen uns«, zischte Joachim. »Nicht wir sind im Wald, sondern der Wald ist in uns. Wenn du in die Lagune fliehst, wirst du uns nur näher kommen. Wir sind bereits in dir. Wir sind bereits du ! Wir ...«
    Jeanne hörte nicht mehr das Ende der Warnung.
    Sie rannte über die ausgedörrte Ebene.

 
    86
    Sie lief den Pfad entlang.
    Und das war die größte Dummheit, die sie begehen konnte.
    Die Ungeborenen würden diesen Weg als Erstes überprüfen. Sie würden Jeannes Fußabdrücke im Schlamm entdecken und der Spur folgen. Tatsächlich würden sie sie überall aufspüren. Sie kannten den Pfad genauso gut wie seine Umgebung und wie jeden anderen Winkel der Lagune. Nicht wir sind im Wald. Der Wald ist in uns ... Jeanne lief. Ein brennender Schmerz in der Brust. Eine jähe Erkenntnis: Sie hatte keine Chance.
    Trotzdem klammerte sie sich an einen Gedanken. Einen einzigen. Der Steuermann der lancha hatte ihr gesagt: »Ich komme morgen Abend zurück. Gleiche Uhrzeit, gleicher Ort.«
    Den Fluss vor Sonnenuntergang erreichen. Sich bis zur Ankunft des Motorboots verstecken. An Bord gehen. Und adios.
    Jeanne lief weiter. Sie hatte in ihren Rhythmus hineingefunden. Kurze Schritte, schnelles Atmen. Das Joggen im Jardin du Luxembourg würde ihr endlich etwas nützen ... Wurzeln. Lianen. Pfützen ... Pass auf, wo du hintrittst, meine Liebe.
    Da fiel sie der Länge nach in einen schmalen toten Flussarm. Sie wollte schreien, aber das rote Wasser drang in ihren Mund. Sie spuckte aus, straffte den Körper und patschte herum. Die Vorstellung, dass Echsen, Schlangen und Aale, die sich in der schwarzen Brühe tummelten, unter ihren Kleidern in ihre Körperöffnungen hineinglitten ...
    Binnen weniger Sekunden hatte sie das andere Ufer erreicht.
    Sie hielt sich an Uferstauden fest und zog sich aus dem Wasser. Jetzt hatte sie wieder festen Boden unter sich. Sie rang nach Atem. Plötzlich vernahm sie die Kakophonie der Schreie um sie herum: Vögel, Affen, Kröten ... Und noch näher das infernalische Gesumm von Insekten ... Sie würde es nie schaffen ...
    Jeanne rappelte sich auf und lief weiter. Es war Mittag. Sie hatte fünf Stunden, um zum Fluss zu gelangen. Wenn sie diesen Rhythmus beibehielt. Wenn sie nicht angegriffen wurde ... Wenn ...
    Etwas traf sie – ein Schlag, wie ihr in der nächsten Sekunde aufging.
    Sie fiel wieder in den Morast; Gedankensplitter, Angst und Fassungslosigkeit durchzuckten sie. Ein schwarzes Loch, von Sternen gesäumt. Dann kehrte die Wirklichkeit wieder. Himmel. Erde. Wald. Ein starker Schmerz fuhr ihr durch den Unterkiefer.
    Sie blickte auf.
    Zähflüssiges Blut rann ihr übers Gesicht.
    Ein Ungeborener stand vor ihr.
    Er trug Lumpen und eine Umhängetasche aus Hirschleder. Haare, die vor Laterit starrten. Die Haut von getrocknetem Lehm
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