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Im Tal der Schmetterlinge

Titel: Im Tal der Schmetterlinge
Autoren: Gail Anderson-Dargatz
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Großmutter verändert. Dennoch waren immer noch Spuren dieser vergangenen Zeit vorhanden: das weiße Damasttuch auf dem Tisch unter der durchsichtigen Plastiktischdecke; die antike grüne Küchenwaage, die auf dem Geschirrschrank stand; das runde, wunderschön geschnitzte Brotschneidebrett, das an der Zwischenwand hing, die die Küche von Vals altem Zimmer trennte. Mein Großvater hatte die Wand gebaut, sie jedoch nicht bis zur Decke hochgezogen. Die Wand war provisorisch gemeint, hatte mir meine Mutter erzählt, und zu der Zeit, als John Weeks sie errichtete, hatte er einen Anbau geplant, der das Zimmer meiner Mutter werden sollte. Anschließend hätte er gerne die Trennwand eingerissen und die ursprüngliche Größe der Küche wiederhergestellt. Aber er war nie dazu gekommen, seinen Plan in die Tat umzusetzen.
    Ich nahm das Brotschneidebrett von der Wand. »Wir dürfen das hier nicht vergessen.« Reste des getrockneten Teigs von dem Tag, als meine Großmutter zum letzten Mal Brot gebacken hatte, waren in die kunstvoll geschnitzte, tiefe Randverzierung gepresst. Abgesehen von den Zeiten, wenn meine Mutter renovierte, hatte das Schneidebrett an der Trennwand gehangen, unbenutzt, seit dem Todestag meiner Großmutter vor nun fast vierzig Jahren. Die Oberfläche war mit Einkerbungen und Schnitten übersät, doch die Spuren verliefen meist entlang der Maserung. Die Gewohnheiten meiner Großmutter waren dort im Holz festgehalten.
    »Ich habe noch nie besonders gut einen Haushalt geführt«, sagte meine Mutter. »Bei meiner Mutter war das Haus immer makellos sauber. Jedes Mal, wenn ich nach Hause kam, schien sie auf der Trittleiter zu stehen und die Oberkante der Trennwand zu wischen, als könnte irgendjemand den Staub dort
oben sehen. Sie war so schrecklich gut organisiert, wie du, Kat.« Meine Mutter stützte sich für einen Moment auf dem Besen ab und nickte mir zu. »Du hast das Licht der Welt erblickt, um den Platz deiner Großmutter einzunehmen.« Da ich nur wenige Monate vor ihrem Tod geboren worden war und ihr so ähnlich sah, hatte mir meine Mutter Mauds Ehering geschenkt. Val hingegen hatte unsere Großmutter gekannt. Immerhin war sie bei meiner Geburt bereits fünfzehn gewesen, und sicher hatte sie es mir übelgenommen, dass ich den Ring bekam. Ich trug ihn gleich neben meinem eigenen Ehering.
    »Gestern Nacht habe ich Grandmas Handtasche in der Kiste gefunden.« Ich zeigte auf die Tasche, die nun auf dem Karton thronte. »Sie war voller toter Marienkäfer. Ein ganzer Schwarm muss wohl dort überwintert haben.«
    »Meine Mutter hat mich immer ihr Marienwürmchen genannt«, sagte meine Mutter. »Selbst als sie siebzig wurde, war ich immer noch ihr kleines Marienwürmchen.«
    »Marien käfer «, sagte Jeremy und lachte. »Es heißt nicht Marien würmchen , sondern Marien käfer . Marienkäfer, Marienkäfer, fliege weg, fliege weg!«, sang er. »Dein Häuschen brennt! Die Kinder schrei’n!«
    »So haben wir die Marienkäfer früher genannt«, erklärte ihm meine Mutter.
    Ich sah sie an. »Ich habe einen Blick in die Handtasche geworfen.«
    Sie fegte den restlichen Schmutz in die Ecke, bevor sie den Besen ebenfalls dort abstellte. »Ich wünschte, das hättest du nicht getan. Das waren ihre persönlichen Dinge.«
    »Es tut mir leid. Ich war nur so neugierig.« Ich beobachtete, wie sie mit einem Geschirrtuch Krümel von der Küchenzeile auf den Boden wischte. »In ihrer Geldbörse steckte ein
Foto von Onkel Valentine. Es war eingewickelt in einen Zeitungsartikel, und da stand, dass Großvater in den Bergen verschollen war und Dad und Onkel Valentine ihn gesucht haben. Warum hast du mir das nie erzählt?«
    Mein Vater hustete, und ich klopfte ihm auf den Rücken. »Der Rauch«, sagte er und hustete erneut, während er sich die Brust hielt. Ich schloss das Fenster.
    »Wie lange war er denn verschwunden?« Als meine Mutter nicht antwortete, fuhr ich fort: »Dein Vater wurde aber doch gefunden. Er ist später an einem Herzinfarkt gestorben, nicht wahr?«
    »Ja, sein Herz.«
    Vor meinem geistigen Auge konnte ich kein Bild vom Gesicht meines Großvaters formen. Hier im Haus gab es keine Fotos von ihm, also wusste ich nicht, wie der Mann ausgesehen hatte, auch wenn meine Mutter behauptete, sie habe seine eingefallenen Wangen geerbt, ein Umstand, über den sie sehr unglücklich war.
    »Und warum hast du mir nie erzählt, dass er verschwunden war?«
    Mein Vater beugte sich vor und nahm die Hand meiner Mutter, damit sie
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