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Im Tal der Schmetterlinge

Titel: Im Tal der Schmetterlinge
Autoren: Gail Anderson-Dargatz
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gemeinsame Vergangenheit zu denken, hatte ich Harrison auf der Farm meiner Mutter zurückgelassen. Die Katze war jetzt fast sechzehn Jahre alt. Ihr Fell war stumpf, stand zu allen Seiten ab und fiel büschelweise aus, und dennoch hatte mir meine Mutter vor nicht einmal einem Monat in einem ihrer täglichen Faxe berichtet, dass Harrison an einem einzigen Wochenende acht Mäuse unter der Veranda gefangen hatte, obwohl er am Geländer angebunden gewesen war. Ich fragte mich verwundert, wozu dann überhaupt
die Leine gut sein sollte. Das alte Tier würde sicherlich nicht weit weglaufen. Trotzdem befürchtete meine Mutter, die Katze könnte aus der Tür rennen und sie verlassen.
    Jeremy rieb sich mit einer Faust die Augen und gähnte, als ich ihn an der Hand zum Küchentisch führte. Kaum hatte er meinen Vater erblickt, rief er »Grandpa!«, schlang ihm die Arme um den Hals und machte es sich auf dessen Schoß bequem. Früher einmal war mein Vater untersetzt und behaart gewesen, mit so langen Augenbrauen, dass sie sich über seinen Brillengläsern kräuselten, doch jetzt war er beinahe vollkommen kahl und sehr dünn. In dem knochigen Gesicht wirkten seine Augen besonders erschreckend, ein unwirkliches Aquamarin, das unecht aussah, so als trüge er farbige Kontaktlinsen. Eine wunderschöne Farbe, die Val geerbt hat. Ich habe tiefbraune Augen. Die Augen meiner Großmutter, wie Mom mir immer wieder erzählt.
    Zwanzig Jahre hatte mein Vater dem Prostatakrebs die Stirn geboten, doch nun schien er diesen Kampf allmählich zu verlieren. Zwischen unserem letzten Besuch im Mai und diesem hier Anfang August hatte er die Fähigkeit eingebüßt, selbständig gehen zu können. Jetzt brauchte er unsere Hilfe, um vom Bett zum Badezimmer oder zum Küchentisch zu gelangen. Seine Haut hatte einen gelblich transparenten Teint angenommen, so dass die dunkelblauen Venen hervortraten und sich wie verzweigte Flüsse über seinen Handrücken erstreckten.
    »Magst du Grandma nicht auch mal drücken?«, fragte meine Mutter und streckte die Arme aus.
    Ich strich mit den Fingern durch die blonden Locken meines Sohnes. »Wie wär’s, kriegt Grandma auch eine Umarmung?«
    Doch Jeremy schüttelte den Kopf und drängte sich enger an
meinen Vater. Meine Mutter sank in ihren Schaukelstuhl zurück und verschwand hinter ihrem Schreibblock.
    »Beth, sieh dir das mal an«, sagte mein Vater, wohl um sie abzulenken. Sie blickte auf. Ein riesiger Martin-Mars-Wasserbomber kam aus dem Rauch über den Ptarmigan Hills zum Vorschein, als sei er das Ergebnis eines raffinierten Zaubertricks. Ich hob Jeremy auf einen Stuhl und öffnete das Fenster einen Spalt, damit er das tiefe Dröhnen des Flugzeugs über uns besser hören konnte.
    »Ich verstehe nicht, wie das Feuer so schnell so groß geworden ist«, sagte meine Mutter. »Aber andererseits war es schrecklich heiß und trocken.« Sie zeigte mit dem Stift auf mich. »Kat, du hast den Blitz gesehen, mit dem alles begonnen hat, nicht wahr?«
    »Wir sind erst letzte Nacht angekommen, Mom. Wir waren in Alberta, als das Feuer ausbrach.«
    »Oh, natürlich. Was rede ich bloß für dummes Zeug?« Sie schlug sich die Hand vor den Mund und drehte sich zu meinem Vater um. »Wer war es gleich noch mal, der den Blitzschlag gesehen hat? War es Val? Oder einer der Nachbarn? Oder jemand in der Zeitung?« Da mein Vater keine Antwort gab, kritzelte sie wieder etwas auf den Schreibblock. Ich konnte die Wörter Blitz und vergessen entziffern.
    Ich schüttete Cheerios in eine Schüssel, und Jeremy setzte sich an den Tisch. »Ich denke, dass gestern Nacht vielleicht jemand im Haus war.«
    Meine Mutter blickte auf. »Oh?«
    »Ich habe im Fenster ein Spiegelbild gesehen, eine alte Frau im Zimmer hinter mir.«
    »Das liegt an der Glasscheibe«, sagte mein Vater. »Ich habe schon alles Mögliche darin gesehen. Wahrscheinlich war es nur dein eigenes Gesicht.«

    »Nein. Es war eine alte Frau, die neben eurer Schlafzimmertür stand. Zuerst habe ich geglaubt, sie sei orientierungslos, hätte sich in der Panik wegen des Feuers verlaufen und unser Haus für ihr eigenes gehalten.«
    Val hatte mir erzählt, dass viele der älteren Menschen in ihrer Obhut geradezu wurmstichige Gehirne haben und sie ihre Häuser verlassen und ziellos umherirren. Sie gingen nie weit weg, da ihre Gedanken ständig hin und her sprangen, wie bei einem Kleinkind, das von einem faszinierenden Gegenstand zum nächsten huscht, von einem in Gestein eingeschlossenen Kristall
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