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Im Schattenwald

Im Schattenwald

Titel: Im Schattenwald
Autoren: Matt Haig
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das die beiden Kinder nie besucht hatten. Ihre Mutter hatte eine Zwillingsschwester namens Eda. Liv und Eda waren in Fredrikstad aufgewachsen, einer Stadt, die nicht weit von Norwegens Hauptstadt Oslo entfernt liegt. Als sie zwanzig waren, starb ihre Mutter, die seit langem verwitwet gewesen war. Im nächsten Jahr begann Liv ihr Studium in England, wo sie ihren späteren Mann Peter kennenlernte. Im selben Jahr verliebte sich Eda in einen norwegischen Skispringer namens Henrik.
    Samuel und Martha wussten nur wenig von Tante Eda und Onkel Henrik. Eines wussten sie jedoch: dass Tante Eda eine hervorragende Speerwerferin gewesen war, die beste in ganz Norwegen, und an den Olympischen Spielen in Moskau teilgenommen hatte. Für Samuel war es eine schier unglaubliche Tatsache, dass ein echter Blutsverwandter von ihm es bis zu den Olympischen Spielen geschafft hatte, was ihn dazu animierte, sich beim Sportfest der Schule immer besonders ins Zeug zu legen. Als sein Speer jedoch fast den Sportlehrer durchbohrte, wurde ihm klar, dass er vielleicht doch nicht in Tante Edas Fußspuren würde treten können.
    Wann auch immer sich Samuel und Martha nach Tante Eda erkundigten, hatte ihre Mutter stets dieselbe Antwort parat: »Sie ist eine warmherzige, wunderbare Frau.«
    Warum sie diese warmherzige, wunderbare Frau dann nie zu Gesicht bekämen, hatten sie unzählige Male gefragt, jedoch nie eine zufriedenstellende Antwort erhalten.
    Hier sind drei dieser nicht zufriedenstellenden Antworten:

    1. »Eure Tante Eda hat genauso viel Angst vor Schiffen wie vor Flugzeugen. Deshalb kommt sie nie aus Norwegen heraus. Jetzt fragt nicht weiter. Ich habe Kopfschmerzen.«

    2. »Einen Urlaub in Norwegen können wir uns nicht leisten, weil es ein sehr teures Land ist und wir nicht gerade in Geld schwimmen. Jetzt fragt nicht weiter. Ich habe Kopfschmerzen.«

    3. »In Norwegen ist es sehr kalt. Ihr fahrt doch bestimmt lieber in ein warmes Land mit schönen Stränden. Und jetzt fragt nicht weiter. Ich habe wirklich starke Kopfschmerzen.«

    Damit war das Thema erledigt.
    Zumindest bis zum sechsten Tag nach dem Tod ihrer Eltern. Das war der Tag, an dem der Brief kam. Mrs Finch, die reizende alte Nachbarin, die sich um sie kümmerte, drückte ihn Samuel in die Hand.
    Die Handschrift sagte ihm nichts. Die großen Buchstaben lehnten sich ein wenig zurück, wie Leute, die etwas Unangenehmes riechen.
    Er öffnete den Umschlag und fand zwei Flugtickets sowie einen Brief, den er zu lesen begann.

    Eda Krogh
1846 Flåm
Liebe Martha, lieber Samuel, Norwegen
    ich bin die Schwester eurer Mutter und, soweit ich sehe, die einzig lebende Verwandte von euch. Es ist eine Schande, dass ich euch erst jetzt, unter diesen furchtbaren Umständen, schreibe, doch ihr sollt wissen, dass ihr nicht auf euch allein gestellt seid. Weder seid ihr gezwungen, in ein Waisenhaus zu gehen, noch wie ein Päckchen herumgereicht zu werden, das niemand öffnen will.
    Als eure nächste Angehörige möchte ich euch einladen, zu mir nach Norwegen zu kommen und hier bei mir zu leben. Zwei Flugtickets habe ich diesem Schreiben beigefügt.

    Ich weiß nicht, was euch eure Mutter von mir erzählt hat. Leider haben wir uns noch nie gesehen und hatten, von den Weihnachtskarten abgesehen, keinen Kontakt miteinander. Das ist umso bedauerlicher, da eure Mutter eine reizende und liebenswerte Frau war.
    Ich wohne in der Nähe des hübschen Städtchens Flåm, das sicher nicht so groß und interessant ist wie Nottingham, doch es ist nicht weit bis zum Fjord und den schneebedeckten Bergen. Ich habe auch einen Hund namens Ibsen, einen so genannten Elchhund, was eine norwegische Rasse ist. Er wird sich sehr darüber freuen, zur Abwechslung einmal an anderen Menschen schnüffeln zu können!
    Im Ort befindet sich eine kleine Schule, die insgesamt 12 Schüler besuchen. Dort werdet ihr euch bestimmt wohlfühlen. Ich habe bereits mit dem Direktor gesprochen. In zwei Wochen könnt ihr euch dort einschreiben (ist das der richtige Ausdruck?).
    Was mich betrifft, so gibt es verschiedene Regeln, an die ihr euch halten müsst, da sie aus gutem Grund existieren.
    In Norwegen gibt es eine alte Redewendung:
    »Ein Leben ohne Regeln ist wie ein Getränk ohne Becher!
    Doch ohne Becher - was soll man mit dem Getränk?«
    Wie dem auch sei, ich bin sicher, dass wir sehr gut miteinander auskommen werden, und freue mich sehr darauf, euch beide kennenzulernen.
    Oh, wir werden eine wunderbare Zeit miteinander verbringen, ihr
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