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Im Schatten des Ringes

Im Schatten des Ringes

Titel: Im Schatten des Ringes
Autoren: Cynthia Felice
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Gräber gezählt?“ fragte ich Rellar, als wir über den Tempelhof schritten. Wir waren auf dem Weg zum Lager des Kaufmanns an den Palisaden.
    Rellar blinzelte in die Richtung des Friedhofs und schüttelte den Kopf. Der immer dicker werdende Film in seinen Augen hatte seine Sehfähigkeit von Jahr zu Jahr mehr beeinträchtigt. „Aber ich weiß, daß es in diesem Winter weniger Tote gab“, sagte er. „Die Kinder waren kräftiger und bekamen frischen Fisch in die Bäuche.“ Er schaute mich an, um sich zu versichern, ob ich seine Schätzung bestätigte.
    Ich nickte, er starrte mich aber weiterhin an. „Ja, in diesem Jahr gab es weniger Tote“, sagte ich. „Man sollte doch meinen, daß die Bürger die Erfindung und Weitsicht des Kaufmanns begrüßten, da der frische Fisch und der Kelp ihren Kindern das Leben gerettet hat.“
    „Krankheiten drohten, Heao. Die Menschen, Baltsars Kunden, waren keine freiwilligen und dankbaren Kunden“, erklärte er ernst. „Die wenigen überzähligen Münzen, die wir zu Beginn der Winterstürme in unseren Börsen hatten, hat der Kaufmann eingestrichen. Die Leute fragen sich, wie hoch die Steuern sein werden, die der Erobererkönig von uns fordern wird … und was geschehen wird, wenn wir sie nicht bezahlen können.“
    Die noch nicht verhängten Steuern beherrschten damals unser aller Denken. Von den Eintreiben! des Erobererkönigs waren wir durch die hohen Schneemassen in den Pässen lange Zeit abgeschnitten gewesen, jedoch strichen nun die ersten warmen Frühlingswinde über die Bergspitzen. Die Bergbäche schäumten von Tauwasser über. Schon bald mußten auch die Steuereintreiber erscheinen.
    „Ich glaube, die Leute haben angefangen, Baltsar zu akzeptieren“, sagte Rellar nachdenklich. „Sicherlich ist dir nicht entgangen, daß nur noch die Tempelhüter über ihn schimpfen, und selbst die äußern sich nicht sehr laut.“
    „Wie sollten sie auch? Schließlich legt der Kaufmann täglich und nach jedem Fang frischen Fisch auf ihren Altar. Und sag mir jetzt nicht, die Götter würden sich daran delektieren!“
    Rellar grinste breit, und sein Schwanz schlug auf und nieder. „Der Bursche ist wirklich schlau. Er filierte die Fische für die Reichen und nahm dafür deren Münzen entgegen. Die Köpfe und Eingeweide verkaufte er den Armen gegen Töpfereien und andere Geräte, was immer sie anzubieten hatten. Er gab sich sogar mit Versprechungen zufrieden, und das ist für einen Fremden schon ein großes Wagnis.“
    „Er ist eben großzügig“, sagte ich und dachte dabei an die Mahlzeit, die Baltsar mir vorgesetzt hatte.
    „Schlau, gerissen“, widersprach Rellar. „Was meinst du denn, wem die Handwerker im nächsten Jahr ihre Waren zuerst anbieten werden? Baltsar? Oder seinen Konkurrenten?“
    „Welchen Konkurrenten?“
    „Im nächsten Jahr wird er welche bekommen.“
    „Na schön, dann war sein Handeln eben vom Streben nach Gewinn bestimmt. Aber wenigstens sind die Kinder nicht gestorben“, sagte ich. „Sie hatten Husten, aber ihre Körper waren wohlgenährt und kräftig genug, um die Entbehrungen des Winters zu überstehen. Als wir noch ein freies Volk waren, hatten wir mehr Tote zu beklagen. Die Tempelhüterinnen haben seltsame Vorstellungen von Gut oder Schlecht. Sie sollten öffentlich ihre Beschuldigungen zurücknehmen.“
    „Es wird noch eine Weile dauern, bis die Tempelhüterinnen begreifen, daß für jede Münze, die für Fisch ausgegeben wurde, gleichzeitig einer mehr von uns überleben konnte. Wenn die Kinder alt genug werden, um irgendwann einmal ebenfalls Geldmünzen auf die Altäre zu legen, dann müßten auch die Tempelhüterinnen endlich einsehen, wie weise die Götter in dieser Zeit gehandelt haben.“
    Ich schaute Rellar forschend an und überlegte, ob er damit sagen wollte, daß die Unterwerfung unseres Volkes ein Wille der Götter und somit eine Segenstat war, selbst wenn die Sterblichen dadurch erheblich verwirrt waren. Doch er zog sich seine Kapuze tief ins Gesicht, und ich konnte aus seiner Mimik nichts ablesen.
    Als wir die Stadt weit hinter uns gelassen hatten und uns den Palisaden näherten, nahm ich Rellars Hand, um ihn zu führen. Er schritt kräftig und sicher aus und vertraute mir vollkommen. Bald schon hatten wir Baltsars Behausung am Meer erreicht. Der Hubapparat war verschwunden, wahrscheinlich irgendwo versteckt, dachte ich, doch das war gleichgültig, denn die Fischer trugen nun die Körbe selbst hinauf. Das Eis auf den Pfaden auf die
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