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Im Morgengrauen

Im Morgengrauen

Titel: Im Morgengrauen
Autoren: Christine Béchar
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los.
    Nach unserem DVD-Abend ging ich sofort auf mein Zimmer, obwohl es noch relativ früh war. Mein Vater war so darauf bedacht gewesen, mich abzulenken, dass er den Film ziemlich bald nach dem Essen angemacht hatte … Das mit der Ablenkung war nur von mäßigem Erfolg gekrönt gewesen, denn ich hatte Mühe gehabt, mich auf den Streifen zu konzentrieren.
     
    Der nächste Tag in der Schule zog sich wie Kaugummi. Das bedrückte Lächeln von Melanie ließ mich kalt. Da sie mich nicht ansprach, musste ihr klar sein: Ich wusste von ihrem Verrat. Erleichtert vernahm ich am Ende des Tages die Klingel. Endlich zwei freie Tage!

2
     

     

     

     

    „ Hiiilfe! Hiiilfe!“
    Schreie des Entsetzens rissen mich aus dem Schlaf. Sie kamen von draußen. Marie! Daran gab es keinen Zweifel. Mein Blut gefror, denn noch nie hatte sie so geschrien. Ich sprang aus dem Bett und zum Fenster. Ich erschauderte: Mein Vater stand barfuß da – nur mit einer Jogginghose bekleidet und mit einer Mistgabel bewaffnet – einem Tiger gegenüber. Obwohl er mit seinen eins sechsundachtzig nicht klein war, schien er geschrumpft zu sein, verglichen zu dem Koloss, der ihm gegenüberstand. Eine blonde Strähne fiel ihm ins Gesicht. Seine Schläfen leuchteten, Schweißperlen flossen an seinen Wangenknochen herunter, während er dem Biest in die Augen schaute. Obwohl seine Lippen sich bewegten, konnte ich nichts hören, auch nicht, als ich das Fenster öffnete. Er flüsterte meiner Schwester etwas zu, die sich an ihn klammerte. Vorsichtig machte er einen Schritt zurück, ohne seinen Blick von dem Tier abzuwenden. Dieses näherte sich, als wollte es den Abstand, der es von seiner Beute trennte, beibehalten.
    Das Ganze lief wie in Zeitlupe ab. Erstarrt und gelähmt stand ich da. Noch nie hatte ich mich so hilflos gefühlt. Instinktiv umschloss meine Hand den Stein an meiner Halskette und ich wünschte mir von ganzem Herzen, ihnen helfen zu können. Bevor ich überhaupt darüber nachdenken konnte, was zu tun war, spürte ich, wie blitzartig Wärme meinen ganzen Körper durchdrang. Ich wurde von Hitzewallungen überwältigt … Es kribbelte im ganzen Körper, bis in die Fingerspitzen… bis in die Zehe. Noch nie hatte ich etwas Vergleichbares erlebt. Was geschah mit mir? Ich war so verwirrt, dass ich für einen Augenblick die Szene, die sich im Garten abspielte, vergaß. Instinktiv ging ich in die Knie. Es war, als hätte ich überhaupt keinen Einfluss mehr auf meine Bewegungen. Ich hatte jegliche Kontrolle über meinen Körper verloren und kam mir wie eine Marionette vor, deren Fäden von einer unsichtbaren Hand gezogen wurden. Auf allen Vieren fiel mein Blick nach unten. Entsetzt stellte ich fest, dass meine Hände dabei waren, sich zu verändern. Langsam, aber stetig schwollen sie an. Ich konnte meine Haut nicht mehr erkennen, immer mehr Haare sprossen aus allen Poren und wuchsen immer schneller. Meine Finger wurden kürzer, meine Nägel länger und dicker, um sich schließlich zu mächtigen Krallen zu biegen. Als mein Pyjama riss, stellte ich erschrocken fest, dass mein ganzer Körper behaart war. Das musste ein Albtraum sein! Ich würde jeden Moment aufwachen und über meine Panik lachen. Zögernd ging ich zum Spiegel, um meine Neugier zu befriedigen, und hatte Mühe zu glauben, was ich sah. Ein Löwe stand mir gegenüber und dieser Löwe war ich.
    Blitzartig verschwand mein Entsetzen. Mir blieb keine Zeit für Überlegungen. Traum oder Wirklichkeit? Es spielte in diesem Augenblick keine Rolle, denn mir wurde schlagartig bewusst: Diese Verwandlung würde mir helfen, das Leben meiner Schwester und meines Vaters zu retten. Ich hatte jegliches Zeitgefühl verloren und hoffte, es sei noch nicht zu spät. Ohne weitere Sekunden zu vergeuden, rannte ich zum Fenster. Sie standen immer noch wie erstarrt da, als wäre die Zeit stehen geblieben. So machte ich einige Schritte zurück, einen Satz nach vorne, und draußen war ich.
    Im Körper eines Löwen landete ich zwei Meter von meiner Schwester entfernt. Kreischend ließ sie das eine Bein meines Vaters los und klammerte sich am anderen fest. Er versuchte, sie zu beruhigen.
    „ Bloß nicht schreien Mäuschen! Und mach ja keine hastige Bewegung, es wird alles gut.“
    In Anbetracht der Panik, die ich in seinen Augen sah, zweifelte ich, dass er selbst an die Worte glaubte, die gerade aus seinem Mund gekommen waren. Ich hätte sie so gerne beruhigt, ihnen gesagt, dass ich es war, konnte es aber nicht. Die
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