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Im Land des Roten Ahorns

Im Land des Roten Ahorns

Titel: Im Land des Roten Ahorns
Autoren: Claire Bouvier
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dass seine Tochter neben ihm stand, öffnete er noch einmal die Augen und streckte zitternd die Hand nach ihr aus. »Mein Flämmchen.« Seine Stimme war bei dem Rasseln, das aus seiner Lunge drang, kaum zu verstehen.
    Jaqueline kniete sich neben das Bett. Ihren Kosenamen zu hören brachte sie aus der Fassung. Heiße Tränen kullerten über ihre Wangen. »Ich bin hier, Papa.«
    Seine Haut, trocken wie Pergament, war so kalt, als sei der Lebensfunke bereits aus ihm gewichen. Lediglich in seiner Brust und den fiebrig dreinblickenden Augen schien noch Leben zu sein.
    »Es tut mir leid«, raunte er. Auch zum Sprechen hatte er kaum noch Kraft. »Ich hätte mir gewünscht, noch zu erleben, dass du einen guten Mann findest und Mutter wirst.«
    Jaqueline schluchzte lauthals. »Papa, ich -«
    »Sag nichts! Ich werd vom Himmel aus über dich wachen ... Finde deinen Weg im Leben, mein Kind! ... Du bist schön, klug und hast mein Forscherherz geerbt. Nutze es!«
    Weiter kam er nicht, denn ein Hustenanfall erschütterte seinen Körper. Seine Augen weiteten sich angstvoll, während er verzweifelt um Atem rang. Seine Hand umklammerte die seiner Tochter, erschlaffte jedoch plötzlich. Und sein Blick wurde starr.
    »Vater?«, fragte Jaqueline ängstlich, während ihr Herz vor grausamer Gewissheit stolperte.
    »Doktor!«
    Sauerkamp, der im Flur gewartet hatte, eilte sofort herbei. Er griff nach Halstenbeks Handgelenk und schüttelte den Kopf. »Es tut mir leid.«
    Nur verschwommen nahm Jaqueline wahr, dass Sauerkamp die Augen ihres Vaters schloss. Als der Arzt das Zimmer verlassen hatte, gab sie ihrem Schmerz nach und brach hemmungslos weinend über dem Toten zusammen.
    Zwei Stunden nachdem Anton Halstenbek seinen letzten Atemzug getan hatte, verließ der Bestatter das Haus und lenkte die Kutsche mit dem einfachen Fichtensarg ihres Vaters zur Leichenhalle. Zuvor hatte sich Dr. Sauerkamp bereits verabschiedet, nachdem er Jaqueline noch ein Mittel zur Beruhigung dagelassen hatte.
    »Passen Sie gut auf sich auf, Fräulein Halstenbek!«, hatte er gesagt, während er ihre Hand drückte. »Und scheuen Sie sich nicht, mich um Hilfe zu bitten. Auch wenn Ihr Vater tot ist, werde ich Ihnen immer verbunden bleiben.«
    Jaqueline bedankte sich höflich. Sie wusste freilich, dass ihr der Arzt bei den Problemen, die auf sie warteten, nicht helfen konnte. Sie musste den Nachlass ihres Vaters ordnen, das Begräbnis organisieren und sich um die Schulden kümmern, die er ihr hinterlassen hatte. Letzteres war das größte Übel, denn sie besaß so gut wie keinen Pfennig mehr und war sich darüber im Klaren, dass alles, was ihr Vater besessen hatte, verpfändet werden musste.
    Die Stille im Haus war unheimlich. Jeder Schritt hallte laut von den Wänden wider, und das Ticken der Standuhr begleitete Jaqueline ebenso beständig wie das Pochen ihres eigenen Herzens.
    Was soll nun werden?, fragte sie sich, während sie sich am Treppengeländer festhielt, als fürchte sie, den Halt zu verlieren. Wie lange werde ich noch hierbleiben können?
    Schließlich zog es sie in das Arbeitszimmer ihres Vaters. Für die zahlreichen Erinnerungsstücke, die Anton Halstenbek von seinen Reisen mitgebracht hatte und mit denen der Raum vollgestopft war, hatte sie allerdings keinen Blick.
    Niedergeschlagen sank sie in einen Lehnstuhl und schaute aus rot geweinten Augen zum Fenster hinaus.
    Ein klarer Wintermorgen dämmerte über Hamburg. Das dunkle Blau des Himmels war gesäumt von einem orangefarbenen Leuchten, das den Sonnenaufgang ankündigte. Mond und Sterne verblassten. Die Dächer der Nachbarhäuser wirkten noch grau, doch schon bald könnte man den Schnee bewundern, der seit Tagen darauf glitzerte.
    Vater hat den Schnee geliebt, dachte Jaqueline, und wieder stieg ein Schluchzen in ihrer Brust auf. Doch obwohl sie das Gefühl hatte, dass die Trauer sie zerriss, versiegten die Tränen allmählich.
    Ratlosigkeit erfasste sie.
    Nicht nur dass ich jetzt ganz allein auf der Welt bin, sicher werden die Gläubiger schon bald in Scharen bei mir einfallen, überlegte sie.
    Die Schulden, die ihr Vater in den letzten Jahren gemacht hatte, waren immens. Immer wieder hatten seine Kreditgeber beteuert, dass sie ihre Forderungen angesichts seiner Krankheit zurückstellen würden. Aber das würde sich ändern. Sobald sie erfuhren, dass Anton Halstenbek tot war, würden sie kommen. Die Tatsache, dass er einer der angesehensten Kartografen im Deutschen Reich gewesen war, würde sie nicht
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