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Im hohen Gras

Im hohen Gras

Titel: Im hohen Gras
Autoren: S King
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die Frau. »Bitte! Bleiben Sie, wo Sie sind! Tobin, hör auf zu rufen! Hör auf zu rufen, Schatz! Sonst hört er dich noch!«
    »Hallo?«, brüllte Becky. »Was ist denn da los?«
    Hinter ihr schlug eine Wagentür zu. Cal, der sich auf den Weg zu ihr machte.
    »Wir haben uns verirrt!«, schrie der Junge. »Bitte! Meine Mama ist verletzt! Bitte, bitte helfen Sie uns!«
    »Nein!«, sagte die Frau. »Nein, Tobin, nein!«
    Becky fragte sich, wo Cal so lange blieb, und drehte sich um.
    Er hatte den Parkplatz halb überquert und stand neben einem Prius der ersten Generation. Der Wagen war von einer dünnen Staubschicht überzogen, die fast vollständig die Windschutzscheibe bedeckte. Cal beugte sich leicht vor, schirmte mit der Hand die Augen ab und spähte durch das Fenster auf der Beifahrerseite hinein. Er runzelte kurz die Stirn und zuckte dann zurück, als hätte ihn eine Bremse gebissen.
    »Bitte!«, sagte der Junge. »Wir haben uns verirrt und finden die Straße nicht mehr.«
    »Tobin!«, rief die Frau mit erstickter Stimme, als wäre ihr Mund völlig ausgetrocknet.
    Wenn das kein raffinierter Streich war, dann lag hier wirklich etwas im Argen. Unbewusst befühlte Becky DeMuth mit einer Hand ihren Bauch, der so prall wie ein kleiner Wasserball war. Ebenso wenig brachte sie das Gefühl, das sie in diesem Moment empfand, mit den Träumen in Verbindung, die sie seit fast zwei Monaten verfolgten – Träume, über die sie nicht einmal mit Cal gesprochen hatte. In denen sie nachts auf einer dunklen Straße fuhr. Und in denen sie ebenfalls ein Kind rufen hörte.
    Zwei lange Schritte, und sie war die Böschung hinunter. Die Schräge war steiler gewesen als erwartet, und das Gras war sogar noch höher, als sie gedacht hatte, eher über zwei Meter als nur mannshoch.
    Der Wind frischte auf. Die Graswand vor ihr wogte und wich vor Becky zurück.
    »Suchen Sie nicht nach uns!«, rief die Frau.
    »Hilfe!«, sagte der Junge gleichzeitig und übertönte sie dabei fast – er schien viel näher zu sein. Becky hörte ihn ein kleines Stück zu ihrer Linken. Nicht so nahe, dass sie die Hand ausstrecken und ihn berühren konnte, aber bestimmt nicht mehr als zehn, zwölf Schritte von der Straße entfernt.
    »Ich bin hier drüben, Kleiner«, rief sie. »Lauf einfach auf mich zu. Die Straße ist gar nicht weit weg. Du hast es fast geschafft.«
    »Hilfe, Hilfe!«, sagte der Junge ein Stückchen näher. »Ich kann Sie immer noch nicht sehen!« Dem folgte ein hysterisches, wieherndes Lachen, bei dem es Becky eiskalt wurde.
    Mit einem Satz kam Cal die Böschung herunter und geriet dabei ins Schlittern. Fast wäre er auf dem Hintern gelandet. Der Boden war feucht. Wenn Becky bisher gezögert hatte, in das dichte Gras hineinzuwaten, dann weil sie keine durchnässten Shorts kriegen wollte. Die Tropfen, die an den hohen Halmen funkelten, reichten bestimmt aus, einen ganzen Teich damit zu füllen.
    »Was stehst du nur rum?«, fragte Cal.
    »Irgendwo da drinnen im Gras ist auch eine Frau«, sagte Becky. »Die verhält sich sonderbar.«
    »Wo sind Sie?«, rief der Junge verzweifelt, und es klang, als wäre er nur ein, zwei Schritte entfernt. Becky hielt nach ihm Ausschau, konnte jedoch nichts entdecken. Dafür war er offenbar doch noch zu weit weg. »Kommen Sie? Bitte! Ich finde hier nicht raus!«
    »Tobin!«, schrie die Mutter. Sie war so weit weg, dass sie sich anstrengen musste. »Tobin, hör auf! «
    »Halt durch, Kleiner«, sagte Cal und trat ins Gras hinein. »Käpt’n Cal eilt zu Hilfe. Täterä!«
    Becky hielt ihr Handy in der Hand, das sie inzwischen hervorgezogen hatte, und wollte Cal noch fragen, ob sie nicht lieber die Highway Patrol oder irgendwelche andere Uniformierte rufen sollten, die hier zuständig waren.
    Cal hatte keine drei Schritte getan, und plötzlich konnte Becky nur noch sein blaues Jeanshemd und seine Khakishorts sehen. Ohne vernünftigen Grund fing ihr Puls bei der Vorstellung, sie könnte ihn aus den Augen verlieren, an zu rasen.
    Trotzdem blickte sie auf das Display ihres kleinen, schwarzen Smartphones und sah, dass alle fünf Balken angezeigt wurden. Sie tippte die 911 und drückte auf die Ruftaste. Während sie das Telefon ans Ohr hob, machte sie einen langen Schritt ins Gras hinein.
    Das Telefon klingelte einmal, und dann erklärte ihr eine Automatenstimme, dass der Anruf aufgezeichnet werde. Becky machte einen weiteren Schritt, weil sie das blaue Hemd und die hellbraunen Hosen nicht aus dem Auge verlieren wollte.
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