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Im Herzen Rein

Im Herzen Rein

Titel: Im Herzen Rein
Autoren: Andrea Vanoni
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stechenden Blick. Sie sah sich um, ob jemand sie beobachtete. Sicher konnte man ihr den Schrecken ansehen. Jedenfalls war es ein unangenehmer Zwischenfall gewesen, und eigentlich müsste sie sich bei Herbert Justus bedanken, denn er hatte geistesgegenwärtig den Beamten befohlen, ihn vom Tatort zu entfernen.
    Sie ging zu ihm, aber er winkte ab und murmelte: »Irre gibt’s überall«.
    »Passiert denn so etwas öfter?«
    »Hatten wir schon ein paarmal.«
    Okay, also hatte es nicht an ihr gelegen, dass ein Zuschauer verrücktspielte. Gerade heute bei ihrem ersten Auftritt war ihr das wichtig. Sie lächelte Justus kurz zu und ging zur Tagesordnung über: »Ist der Gerichtsmediziner schon da?«
    »Ja, dort drüben.« Er zeigte auf einen hageren, mittelgroßen Mann. »Herr Doktor Kirch«, rief er laut.
    Der Gerichtsmediziner kam auf sie zu und stellte sich vor. Mit dunklen Knopfaugen sah er sie aufmerksam an.
    »Ist die Frau am Herzschlag gestorben?«, fragte sie.
    »Nein, dann wäre sie umgefallen. Die Todesursache scheint ein Nadelstich zu sein. Schauen Sie, hier.« Er zeigte ihr einen roten Glasknopf, genau in der Mitte der linken Brust.
    Chris durchzuckte es, als sie die Nadel an dieser empfindlichen Stelle sah.
    »Der Knopf ist das Ende einer Stahlnadel, die ihr vermutlich ins Herz gestoßen wurde. Die Frau ist eindeutig länger als zehn Stunden tot, die Leichenstarre ist voll ausgebildet. Sie beginnt in Teilen des Körpers nach etwa vier Stunden, je nach Gewicht und Außentemperatur, und ist dann nach acht bis zehn Stunden ganz ausgebreitet. Zwei bis drei Tage später löst sie sich wieder mit dem Zerfall der Muskeln. Davon gibt es hier noch keine Anzeichen. Sie muss schon in dieser erstarrten Haltung hergebracht worden sein. Wann wollen Sie die Obduktion?«
    »Ich rufe Sie an. Ich warte noch auf Nachricht von Frau Zeisberg. Ich möchte sie dabeihaben.«
    Kirch schrieb ihr seine Handynummer auf. »Wissen Sie, dass der Name Moabit auf die Hugenotten zurückgeht?«
    Chris wusste es nicht, obwohl sie in diesem Stadtteil schon seit Jahren arbeitete.
    »Die französischen Glaubensflüchtlinge nannten ihren neuen Wohnsitz Terre de moab , in Anlehnung an das Alte Testament, weil sie hier genauso Zuflucht gefunden hatten wie die Israeliten im Land der Moabiter nach ihrem Auszug aus Ägypten.«
    Wann würde sie so viel Routine haben, dass sie angesichts einer Leiche über die Herkunft von Namen reden könnte? Im Moment fehlte ihr nicht nur die Routine - sie war aufgewühlt von der Toten auf ihrer Bank.
    »Kann die Leiche abtransportiert werden?«, wollte Herbert Justus wissen.
    »Von mir aus, ja«, sagte Kirch und sah Chris fragend an.
    »Einverstanden, wenn der Polizeifotograf mit den Fotos fertig ist. Ich brauche Fotos aus allen Perspektiven und aus unterschiedlichen Abständen«, sagte sie.
    Justus rief dem Fotografen zu: »Hast du alles?«
    »Alles im Kasten.« Scholli zeigte den aufgerichteten Daumen.
    »Gut, dann ab mit ihr.«
    Zwei Männer kippten die Leiche in Sitzhaltung auf die Trage mit dem Leichensack und zogen den Reißverschluss zu. Mit diesem Geräusch streckte Kirch der Staatsanwältin die Hand hin. »Dann bis später.« Er lächelte knapp und ging Richtung Absperrung.
    »Ich muss weiter«, sagte Justus.
    Sie wurde auch nicht mehr gebraucht. Ein Polizist bahnte ihr eine Gasse durch die Neugierigen. Sie nickte ihm zu und ging zur Lutherbrücke, wo ihr Wagen parkte.
    Sie ließ sich auf den Sitz fallen und zog die Autotür zu. In diesem geschützten Raum überfiel sie noch einmal der Schrecken. Sie sah die Tote vor sich, in ihrem blauen Kleid auf der Parkbank, mit den blonden Haaren, aber mit ihrer Frisur und mit ihrem Gesicht: Sie sah sich selbst als Tote dort auf der Parkbank sitzen. Sie starrte aus dem Fenster und ermahnte sich zur Vernunft: Chrissie, du bist eine intelligente Frau, die sachlich und analytisch denken kann, deswegen bist du erfolgreich als Staatsanwältin. Du stehst mit beiden Beinen im Leben, bist weder schreckhaft noch paranoid, sondern ausgesprochen realistisch. Dies ist ein ganz normaler Tag in der neuen Abteilung. Du hast deiner ersten Leiche gegenübergestanden, die ein bisschen ungewöhnlich aussah. Zufällig saß sie auf derselben Bank, auf der du gewöhnlich deine Mittagspause verbringst. Sie fütterte Tauben, wie viele Spaziergänger es dort jeden Tag tun. Auch auf dieser Bank. Und viele Frauen Anfang dreißig sind schlank und haben blondes Haar - und im Übrigen: deines ist ja in
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