Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
Im Herzen Rein

Im Herzen Rein

Titel: Im Herzen Rein
Autoren: Andrea Vanoni
Vom Netzwerk:
Vögel fütterte? Sie trat einen Schritt näher und blickte in ein Gesicht von ätherischer Zartheit, die blassblauen Augen in einem seltsam verklärten Blick erstarrt, und begriff, dass sie in die Augen einer Toten sah. Diese Erkenntnis war fast wie eine körperlich unangenehme Berührung. Im nächsten Moment bemerkte sie auch, dass die Tauben ebenso erstarrt waren wie die Frau, die sie scheinbar fütterte.
    »Sie hat keine Papiere bei sich, nichts, rein gar nichts. Wir wissen nicht, wer sie ist«, sagte jemand neben ihr.
    Chris drehte sich um und schaute in dunkle Augen, die sie anlächelten. Der Mann trug, wie die anderen, einen Schutzanzug, aus der Kappe quoll dichtes braunes Haar hervor, dazu kräftige Augenbrauen und eine gerade Nase.
    »Ich nehme an, Sie sind Staatsanwältin Gregor«, sagte er mit warmer Stimme.
    Sie nickte und hielt ihm die Hand hin.
    Er zog schnell den Handschuh aus. Sein Händedruck war kräftig und warm. »Ich bin Oberkommissar Marius Seefeld.«
    Sie nickte. »Geht es hier um zwei Tote?«
    »Diese schöne Schaufensterdekoration ist die Tote.« Er zeigte auf die Frau im blauen Kleid. »Die hinter der Bank ist nur betrunken. Wahrscheinlich eine Alkoholvergiftung, meint Dr. Kirch. Der Krankenwagen wird gleich da sein. Wir werden sie vernehmen, wenn sie wieder nüchtern ist. Herbert! Hier ist Frau Staatsanwältin Gregor.«
    Der Angesprochene, etwa fünfzig, mit grauen Augen, kam zu ihnen. »Ich bin Hauptkommissar Justus, stellvertretender Leiter der Kommission.«
    Die Staatsanwältin gab ihm die Hand.
    »Merkwürdig, nicht? Sie sieht aus, als ob sie noch lebt«, sagte Justus. »Mitten in der Bewegung erstarrt. So etwas habe ich noch nicht gesehen. Nur als Wachsfigur im Kabinett bei Madame Tussaud in London.« Er wandte sich wieder seinem Team zu.
    »Bis später«, sagte Marius Seefeld und ging dem Krankenwagen entgegen, der langsam angefahren kam.
    Sie ging zögerlich um die Tote herum und spürte einen beklemmenden Druck auf der Brust. Das Opfer saß auf ihrer Bank und hatte ihr Alter und ihre Figur. Etwas über dreißig, schlank, blondes Haar. Neben ihr stand der gleiche Kaffeebecher, wie sie ihn mittags immer im Bistro holte. Mit Deckel, sodass nichts überschwappte. Dieser hier hatte auch einen Deckel und stand genauso rechts neben der Toten, wie sie ihn immer hingestellt hatte. Das kann doch alles nicht wahr sein, dachte sie. Und die Tote fütterte Tauben, genau wie sie - die linke Hand mit dem Sandwich im Schoß und die rechte Hand ausgestreckt. Chris erinnerte sich, wie die Tauben mit Trippelschritten auf die hingeworfene Krume zugelaufen waren. Die erste hatte sie aufgepickt, die anderen hatten dann versucht, sie ihr wegzuhacken. Diese Tauben hier waren in der Bewegung erstarrt - genauso wie die Frau mit dem ausgestreckten Arm. Chris fröstelte. Sie hatte das Gefühl, ihrem Spiegelbild gegenüberzustehen.
    »Hoch mit ihr!«, wies der Sanitäter seinen jüngeren Kollegen an, und sie hievten die Trage mit der betrunkenen Obdachlosen in den Wagen. Chris verfolgte mechanisch, wie sie die Doppeltür zuwarfen, sich von Herbert Justus ein Papier auf einem Holzbrett unterschreiben ließen, einstiegen und langsam abfuhren, aber ihre Gedanken waren woanders. Möglicherweise war das alles nur Zufall und Einbildung. Klar war, dass dieser Fall kompliziert und spektakulär war und dass sie Paula von Anfang an als Ermittlerin dabeihaben wollte, um nicht mit diesem Herbert Justus in einer Sackgasse zu landen. Ohne zu zögern, rief Chris ihre Freundin an, erreichte aber nur die Mailbox. Zum Glück hatte sie den Namen des Hotels, wo Paula und Ralf Urlaub machten.

2
    Paula öffnete die Tür zum Balkon und schaute auf die sanfte Brandung der Ostsee. Die Wellen kräuselten sich und rollten auf den Strand. Sie liebte dieses Rauschen - wie das Meer sich zusammenzog und sich mit einer neuen Welle wieder streckte. Dann war für einen Moment Stille.
    Zwei Jogger liefen am Wasser entlang. So früh morgens war es frisch, doch gegen elf wurde es warm wie im Sommer. Und das in der zweiten Septemberhälfte. Die alte Frau kam wie jeden Morgen mit ihrer Tüte, um die Möwen zu füttern, die ersten Kinder planschten in den Wellen, und das junge Paar bezog seinen Strandkorb. Ralf schlief noch, und Paula genoss es, auf dem Balkon zu sitzen und zu spüren, wie langsam im Urlaub die Zeit verging.
    Das Telefon klingelte. Sie ging hastig ins Zimmer, damit Ralf nicht aufwachte. Die Rezeption wusste doch, dass sie keine
Vom Netzwerk:

Weitere Kostenlose Bücher