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Im Herzen Rein

Im Herzen Rein

Titel: Im Herzen Rein
Autoren: Andrea Vanoni
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gelegentlich gefragt, ob die künstlich seien. Sie hatte große Augen und volle Lippen. Sie wusste, dass Männer auf ihr Aussehen abfuhren. Trotzdem hatten ihre Brüder immer gesagt, du wirst nie einen Mann kriegen, du bist für Männer ungenießbar, viel zu grob und zu autark.
    Chris freute sich über den Ruf zu ihrer ersten Leiche. Ihrem Antrag auf den Wechsel in die Mordabteilung war überraschend schnell stattgegeben worden. Die letzten vier Jahre war sie bei der Sitte gewesen, und sie hatte die Nase voll von Frauen, die sich immer wieder in die Hände von Männern begaben, von denen sie geschlagen, vergewaltigt und gefoltert wurden. Anfangs hatte sie versucht, sie aus diesen Umständen herauszuholen, ihnen sogar andere Wohnmöglichkeiten besorgt, obwohl das nicht ihre Aufgabe war. Aber ihre Bemühungen waren fast immer gescheitert, weil die Frauen wieder zu ihren Peinigern zurückliefen. Jetzt aber wurde sie zu einer gerufen, die nicht zurücklaufen konnte. Sie lag ermordet am Spreekanal.
    Als sie ihren Wagen aus der Tiefgarage fuhr, dachte sie, dass es witzig war, dass in ihrem ersten Fall auch die Neunte zuständig war. Sie wurde von Paula Zeisberg geleitet, einer Freundin, die ihr von dem Wechsel in die Mordabteilung abgeraten hatte und nun im Urlaub war. Vertauschte Rollen , dachte Chris, sie ist irgendwo an der Ostsee, und ich stehe am Tatort und gebe Anweisungen. Es war klar, warum Paula ihr abgeraten hatte. In ihrer neuen Abteilung hatte es seit Jahren nur eine einzige Frau gegeben, die nun in den Ruhestand ging und an deren Stelle sie trat - eine dröge Jungfer mit immer dünner werdenden Haaren, die sie sich selbst kupferrot färbte. Sie hatte ihr gleich gesagt: »Wer hierherkommt, will keine Kinder und keine Familie.« Wie recht sie hatte! Nach ihren letzten Erlebnissen in puncto Liebe - oder besser: Sex - wollte sie nur noch eins: beruflichen Erfolg. Sie hatte schon zu viel versäumt. Während ihre Brüder in der Wirtschaft Karriere machten, hatte sie sich verzettelt mit Tennis, Kunst, Musik, Steilwandklettern und erotischen Abenteuern, die letztlich nichts brachten. Sie ahnte, dass sie eigentlich nach dem idealen Mann suchte, nach einem Typen, der mit ihr fertig werden konnte und außerdem selbstsicher und intelligent genug war, ihren Brüdern und ihrem Vater Paroli zu bieten. Dabei sollte er attraktiv sein und erfolgreich, möglichst als Künstler, und in der Steilwand nicht ganz unten hängen bleiben.
    Als sie die Paulstraße hinunterfuhr, erreichte sie die Querstraße Alt Moabit bei Gelb, sah im letzten Moment, wie die Ampel auf Rot schaltete, und gab Gas. Schuldbewusst murmelte sie: »Mist.« Sie wusste nicht, ob auf dieser Kreuzung geblitzt wurde, aber sie hatte Glück.
    Sie parkte ihren Mini Cooper an der Luther-Brücke kurz vor dem Schloss Bellevue und ging schnell den Spazierweg zum Spreekanal Richtung Kanzleramt hinunter. Sie trug Jeans und Turnschuhe und unter ihrem leichten Trenchcoat eine Sportbluse mit Reißverschluss. Hier unten am Fluss war die Luft noch morgendlich kühl, aber die durchdringende Wärme der Sonne war schon zu spüren. Es war eine belebende Mischung, und sie spürte, wie ihr die Luft über das Gesicht und den bloßen Hals strich. Sie steuerte auf eine der Parkbänke zu, auf der sie immer ihre Mittagspause mit einer Latte macchiato verbrachte. Das Moabiter Gericht war nur zehn Minuten zu Fuß entfernt, einschließlich des kurzen Stopps im Bistro, wo sie sich den Kaffee holte, um ihn hier auf der Bank zu trinken. Sie liebte es, das Glitzern auf dem Wasser zu beobachten, während sie das Sandwich, das sie meistens nur halb aß, an die Tauben verfütterte.
    Der Menschenauflauf war direkt in der Nähe ihrer Bank. Nachdem sie sich durch die Neugierigen bis zum Absperrband und zur Polizei gedrängt hatte, sah sie, dass die Spurenexperten schon ihre Fähnchen gesteckt hatten. Jenseits der Wiese, links von ihr, lag die Beamtenschlange , der Wohnblock für Regierungsbeamte. Sie sah die Leiche genau hinter ihrer Mittagsbank liegen: eine zusammengekrümmte Frau. An ihrem Kopfende stand ein Supermarktwagen mit Tüten. Auf der Bank davor saß eine Frau im blauen Kleid. Sie war ihr mit dem Rücken zugewandt. Sie wunderte sich darüber, dass niemand diese Frau auf der Bank beachtete, die trotz der Leiche hinter ihr seelenruhig dasaß und die Tauben vor sich fütterte. Chris sah, dass sie etwa ihr Alter hatte. Aber wer war sie, dass sie hier in all dem Trubel so ungerührt saß und die
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