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Im Gefängnis des Glaubens

Im Gefängnis des Glaubens

Titel: Im Gefängnis des Glaubens
Autoren: Lawrence Wright
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im Flugzeug zu reisen. Er wollte, dass seine Frau bei dem Gespräch dabei war, da er ihr nie die ganze Geschichte erzählt hatte. Und er wollte sich an einem öffentlichen Ort mit mir treffen, da er fürchtete, sonst in Tränen auszubrechen. Nach dem Massaker hatte Tim nach Jonestown zurückkehren müssen, um die Leichen aller Menschen zu identifizieren, die er kannte. Unter den Toten waren seine Eltern, seine Geschwister, seine Frau und seine Kinder – seine ganze Welt. Er war sicher, dass er die Selbstmorde hätte verhindern können, wäre er dort gewesen. Er erzählte seine Geschichte, er schrie, er hämmerte auf den Tisch. Der Kellner machte einen Bogen um uns, und die anderen Gäste starrten betreten auf ihre Teller. Nie wurde mir deutlicher vor Augen geführt, wie gefährlich die neuen religiösen Bewegungen sind und welchen Schaden sie ihren Angehörigen zufügen können – nicht weil diese Menschen charakterschwach wären, sondern weil sie sich danach sehnen, Gutes zu tun und ihrem Leben einen Sinn zu geben.
    Scientology möchte, dass wir ihre Praxis als wissenschaftlichen Zugang zur spirituellen Erleuchtung betrachten. Tatsächlich entbehrt die Lehre Hubbards jeder wissenschaftlichen Grundlage. Man könnte sie eher als philosophische Deutung der menschlichen Natur beschreiben: So betrachtet, könnte man Hubbards Vorstellungen mit denen anderer Moralphilosophen wie Immanuel Kant und Søren Kierkegaard vergleichen, obwohl keiner von ihnen je ein derart breites Publikum gefunden hat wie Hubbard. Seine oft einfallsreichen und minutiös beschriebenen Kategorien des menschlichen Verhaltens werden von seinen Fälschungen und den absurden Behauptungen überschattet, die sich mit brillanten Einfällen mischen und es jedem, der nicht an die Scientology glaubt, schwer machen, Hubbards Theorien einen Sinn abzugewinnen. Eine ernsthafte wissenschaftliche Auseinandersetzung mit seinen Schriften hat auch deshalb nicht stattgefunden, weil die Scientology-Kirche in dem Ruf steht, Kritiker unversöhnlich zu verfolgen.
    Die Psychotherapie ist der respektablere Cousin der Scientology, obwohl auch sie eigentlich nicht behaupten kann, eine Wissenschaft zu sein. Freuds bleibendes Vermächtnis ist das der uneingeschränkten und offenen Untersuchung der Beweggründe für das menschliche Verhalten. Er postulierte auch Kategorien wie das Ich, das Über-Ich und das Es, die einer eingehenden wissenschaftlichen Überprüfung möglicherweise nicht standhalten werden, aber ein Ausgangspunkt für die Erkundung der inneren Abläufe des menschlichen Verstands sind. Mit seinem Konzept des reaktiven und analytischen Verstands versuchte Hubbard etwas Ähnliches zu erreichen. C. G. Jung nahm mit dem Postulat der Archetypen, die aus seinen psychologischen Untersuchungen hervorgingen, die Entwicklung der Dianetik zur Scientology vorweg – mit anderen Worten, er war ein Vorläufer des Abgleitens der Psychotherapie in den Spiritismus.
    In den Vereinigten Staaten hat es wenig Sinn, Scientologys Anspruch zu bestreiten, eine Religion zu sein. Das einzige Urteil, das wirklich zählt, ist in diesem Fall das der Bundessteuerbehörde IRS . Außerdem gibt es eben Menschen, die tatsächlich an die Prinzipien der Scientology glauben und in einer Glaubensgemeinschaft leben – genügt das nicht, um Scientology als Religion zu akzeptieren? Die Geschichten, die Spott oder fassungsloses Staunen hervorrufen, die Berichte über Xenu und die Galaktische Konferenz mögen Fantasiegebilde sein – oder nichts als »Weltraumoper«, um Hubbards Begriff zu verwenden –, aber alle Religionen enthalten bizarre und befremdliche Elemente. Nehmen wir nur einige der Vorstellungssysteme, bei denen sich Hubbard offenkundig bediente, um sein einzigartiges Machwerk zu fabrizieren: Buddhismus, Hinduismus, Magik, Allgemeine Semantik und Schamanismus. Sie alle stützen sich wie die Scientology auf esoterische Kategorien, um die unergründlichen Geheimnisse des Lebens und des menschlichen Bewusstseins zu erklären. Man findet in vielen Glaubensbekenntnissen Parallelen zu den okkulten Vorstellungen und Praktiken der Scientology. Beispielsweise hat die Vorstellung von den Körperthetanen, die ausgetrieben werden müssen, Ähnlichkeit mit der Teufelsaustreibung in der christlichen Überlieferung. Aber wie jede neue Religion leidet Scientology unter den menschlichen Schwächen ihres Gründers und darunter, dass sie nicht durch von der Zeit geadelte Traditionen in der Kultur verwurzelt
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