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Im Gefängnis des Glaubens

Im Gefängnis des Glaubens

Titel: Im Gefängnis des Glaubens
Autoren: Lawrence Wright
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hat man das angenehme Gefühl, in einem zeitlosen, unveränderlichen Vakuum eingeschlossen zu sein. Die erzwungene Konformität unterdrückt den Lärm der Vielfalt und die Angst vor der Ungewissheit: Man fühlt sich der Ewigkeit näher. Man weiß, dass dieses Paradies am Elektrozaun der Orthodoxie endet und dass jedem, der Zweifel äußert oder Fragen stellt, die Vertreibung aus dem Garten Eden droht. Dennoch besitzt die Kultur der Amischen eine Art von stiller Erhabenheit – nicht weil sie die Moderne ablehnen, sondern weil sie am grundsätzlichen Gewaltverzicht und an einer Lebensform festhalten, die ihren Fanatismus mäßigt. Die Amischen leiden nicht unter gesellschaftlicher Ablehnung wie die Scientologen. Vielmehr werden sie zumeist wie eine lieb gewonnene bedrohte Spezies behandelt: Sie werden von ihren Nachbarn umhegt und von der Gesellschaft belächelt. Dabei neigen sie zum Schisma und sind bereit, wegen eines in den Augen des Außenstehenden belanglosen Streits über ein Element der religiösen Doktrin oder über die Frage, ob ein Dachgesims am Haus oder Bilder an der Wand zulässig sind, jeglichen Kontakt zu geliebten Menschen abzubrechen.
    Die Amischen wirken bewundernswert auf Außenstehende, aber derart isolierten und intellektuell beschränkten Glaubensgemeinschaften droht die Selbstzerstörung. Besonders groß ist diese Gefahr, wenn eine solche Gemeinschaft von den Launen eines einzelnen tyrannischen Führers abhängt. David Koresh errichtete auf einem Gelände bei Waco, dem er den treffenden Namen »Ranch Apocalypse« gab, eine solche Gemeinschaft, die Branch-Davidianer. Im Jahr 1993 wurde mir angeboten, über die Belagerung dieser Gemeinde durch die Bundesbehörden zu berichten. Ich entschloss mich, darauf zu verzichten, da vor Ort mehr Reporter als Sektenmitglieder waren. Aber ich war verstört beim Anblick der 21 Kinder, die Koresh kurz vor Beginn des Infernos aus der Anlage schickte. Diese Kinder ließen ihre Eltern und das bekannte Leben zurück. Sie wurden aus der Glaubensgemeinschaft gerissen, umringt von Bundesagenten und Reportern in Autos verfrachtet und in eine fremde Welt hinausgebracht, in der sie eine ungewisse Zukunft erwartete. Ich dachte, dass es weitere Kinder geben musste, die ähnlich traumatische Erfahrungen gemacht hatten. Was war aus ihnen geworden?
    Auf einem Friedhof im kalifornischen Oakland, unweit des Marinekrankenhauses, in dem Hubbard seine letzten Monate als Soldat verbrachte, erhebt sich ein ungewöhnlicher Erdhügel. Unter einem unscheinbaren Grabstein liegen hier die sterblichen Überreste von über 400 Anhängern des Sektenführers Jim Jones, der im Jahr 1978 in Jonestown mehr als 900 Menschen mit sich in den Tod nahm. Die Särge waren entlang eines mit Bulldozern aufgeschütteten Abhangs aufeinandergestapelt worden, um sie anschließend mit Erde zu bedecken und den Hügel mit Gras zu bepflanzen. So war die Tragödie von Jonestown als eine weitere unerklärliche religiöse Katastrophe im Gedächtnis der Nation beerdigt worden. Die Mitglieder des »Tempels des Volkes«, wie Jones seine Bewegung genannt hatte, waren von seinen pfingstlerischen Heilungen, seinem radikalen sozialen Engagement und seinem ethnischen Egalitarismus angezogen worden. In seiner Persönlichkeit mischte sich Charisma mit Wahnsinn; dazu kam ein unstillbarer sexueller Appetit, der den Terror der Hingabe begleitete. Im Mai 1977 verschwand über Nacht die gesamte Bewegung. Ohne Vorwarnung hatten die Sektenmitglieder ihre Arbeitsplätze und ihre Familien verlassen, um nach Guyana auszuwandern, wo Jones in einem Dschungelcamp ein sozialistisches Paradies errichten wollte. Dort begann er seine Anhänger in Selbstmordtechniken zu schulen.
    Ich erfuhr, dass nicht alle Sektenmitglieder in Jonestown gestorben waren. Unter den Überlebenden waren die drei Söhne des Sektenführers: Stephan, Tim und Jim junior. Zum Zeitpunkt des Massenselbstmords hatten sie in der Hauptstadt Georgetown an einem Basketballspiel gegen die Nationalmannschaft Guyanas teilgenommen. Diese jungen Männer, die von ihrer Vergangenheit nicht losgelassen wurden, hatten nie zuvor ihre Geschichte erzählt. Zu den Privilegien des Journalisten gehört es, dass Menschen ihm solche Erinnerungen in ihrer ganzen emotionalen Vielschichtigkeit anvertrauen. Eines Abends ging ich mit Tim Jones und seiner Frau Lorna essen. Tim besaß ungewöhnliche Körperkraft: Er konnte mit einem Arm 100 Pfund stemmen. Aber eine Angststörung hinderte ihn daran,
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