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Im eigenen Schatten

Im eigenen Schatten

Titel: Im eigenen Schatten
Autoren: Veit Heinichen
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nicht. Verlassen Sie auf der Stelle diesen Ort der Andacht.«
    Niemand rührte sich. Der Fabrikant konnte auf die Verschwiegenheit seines Sitznachbarn zählen – wie einst in der Schulbank versuchten sie krampfhaft, ihr Lachen zu unterdrücken, sie bissen sich auf die Lippen, hatten Tränen in den Augen und blickten angestrengt ins Leere. Als sich nach einer halben Minute niemand erhob, fuhr der Regierungschef mit bebender Stimme fort. Sein Auftritt hatte einiges von der perfekten Inszenierung eingebüßt.
    »Die vielen treuen Freunde, die dir heute gedenken« – wieder räusperte er sich – »und sich in Treue und Dankbarkeit noch einmal um dich versammelt haben, beweisen, welch ein besonderer Mensch du warst. Unsere Wertschätzung und Freundschaft sind dir ewig sicher. Wir werden dich niemals vergessen.« Nun schneuzte sich der Regierungschef auch noch. »Cavaliere Franz Xaver Spechtenhauser, wir gedenken deiner in stiller Andacht.« Den sperrigen Nachnamen hatte er betont langsam und fast perfekt ausgesprochen.
    Die Anwesenden erhoben sich gesenkten Hauptes.
    »Ciao, Franz! Ruhe in Frieden.« Die Worte des Regierungschefs durchbrachen wie heiseres Bellen die Stille. »Ti voglio bene!«
    Die monumentale Orgel stimmte die Fuge aus dem Mozart-Requiem an. Der Erzbischof und Metropolit von Gorizia trat an den Altar und hielt die Messe. Doch schon nach seinen ersten Worten erhob sich der Premier von seinem Platz in der ersten Reihe. Acht breitschultrige Männer, die in den Seitenschiffen hinter den mächtigen steinernen Säulen versteckt das Geschehen kontrolliert hatten, formierten sogleich einen menschlichen Sperrgürtel um ihn und bahnten den Weg zur gepanzerten Limousine, die ihn zum Dorfsportplatz brachte. Vor drei Wochen erst war auch der Papst nach seinem Besuch des einstigen Bollwerks gegen die Barbaren aus dem Norden, von denen auch seine Heiligkeit abstammte, von dort abgeflogen. Der dumpfe Lärm anschwellender Helikopterrotoren durchbrach den Klang der Orgel in der Basilika von Aquileia und entfernte sich.
     
    »Streut meine Asche ins Meer, wenn es so weit ist«, knurrte Proteo Laurenti und wischte sich den Schweiß von der Stirn.
    Es war kurz vor elf Uhr, das Thermometer zeigte für die Jahreszeit außergewöhnliche einunddreißig Grad.
    »Mir ist nicht nach Witzen zumute.« Neben ihm stand Xenia Ylenia Zannier und beobachtete missgelaunt die Edellimousinen mit Kennzeichen von Norditalien bis hin zur Hauptstadt.
    Die dicken Wagen aus vorwiegend deutscher Produktion entfernten sich, sobald ihre Fahrgäste ausgestiegen waren. Einige Fahrzeuge kamen aus Bayern, Kärnten, Slowenien und dem kroatischen Teil Istriens.
    Die Leiterin des Kommissariats im Badeort Grado war müde und nervös. Nur ein paar Stunden hatte sie in der Nacht noch geschlafen, als sie nach einer langen Tour mit dem Boot durch die Lagune ruhiger geworden war. Und bevor sie ihren Dienst am frühen Morgen antrat, hatte sie den Inhaber eines Telefonladens aus dem Schlaf geklingelt, um ein neues Gerät aus den preiswerten Sonderangeboten zu kaufen. Ihr Blick schweifte unstet von den Schaulustigen, die sich hinter der Absperrung drängten, über die grauen Häupter der unzähligen Herren, die sich meist in Begleitung energischer älterer Damen oder nur verhalten aufgedonnerter, noch unverwelkter Schönheiten entfernten. Die Polizistin trug im Gegensatz zu ihrem Kollegen aus Triest Uniform. Bei der Einsatzbesprechung hatte sie von Polizeipräsident und Präfekt die Anweisung erhalten, für die Einhaltung der Sicherheitsmaßnahmen um die Trauerfeier herum zu sorgen. Der Distrikt jenseits der Straße gehörte nicht in ihre Zuständigkeit. Beamte, die dem Innenministerium direkt unterstellt waren, hatten den gepflasterten Vorplatz und den Sperrgürtel unter ihrer Kontrolle. Und auf dem Campanile, von dem der Ausblick unbegrenzt übers flache Land und die Lagune schweifte, waren mit bloßem Auge die Umrisse der Scharfschützen samt ihrer Präzisionsgewehre zu erkennen.
    »Nimm’s gelassen, Xenia.« Laurenti lächelte. »Dies ist kein Ort für ein Attentat. An die Spitzenpolitiker kommt eh keiner ran, sonst säßen nicht so viele Greise am Ruder. Und alle anderen könnte man anderswo leichter umlegen. Es ist Teil des Spiels: Die Herrschaften fühlen sich umso wichtiger, je mehr Brimborium um sie veranstaltet wird.«
    Er war in Begleitung von Pina Cardareto, einer ehrgeizigen Inspektorin aus seinem Kommissariat, von Triest herübergefahren, um sich
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