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Im eigenen Schatten

Im eigenen Schatten

Titel: Im eigenen Schatten
Autoren: Veit Heinichen
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erdrückend, ein schweres Gewicht lastete auf ihrem Körper, nur die linke Hand konnte sie bewegen, langsam zu ihrem Gesicht führen und eine Strähne ihres langen Haares aus dem Mund ziehen. Ihr Speichel schmeckte nach Blut. Xenia Lepore hustete, ihre Augen brannten, die Nase war verstopft. Sie lag auf der Seite und versuchte, ihren Körper wahrzunehmen. Wo waren ihre Beine? Die Zehen? Das Knie? Ihr rechter Ellbogen, ihre Hand? Und ihr Bauch mit dem ersten Kind? Jetzt spürte sie den Schmerz: Ein heftiger Stich im Nacken ließ sie laut aufstöhnen. Sie erschrak, als sie ihre eigene Stimme hörte und hielt einen Moment inne. Dann begann sie zu schreien, so laut sie konnte.
    Um vier Uhr siebenunddreißig stieß Xenia Ylenia Zannier den ersten Laut ihres Lebens aus. Zwei blutige Hände umfassten ihren kleinen Siebenmonatskörper und übergaben ihn einem Sanitäter mit einer Rotkreuzbinde über dem Ärmel seiner Uniform. Der Militärarzt wischte sich mit dem Unterarm den Schweiß von der Stirn und stapfte müden Schrittes zum Waschbecken. Eine Frau steckte ihm eine Zigarette in den Mund, während er seine Hände im Sanitätszelt desinfizierte. Bevor der Arzt sich dem nächsten Opfer zuwandte, tat er drei tiefe Züge, noch einmal schweifte sein Blick zu dem leblosen Körper auf dem Operationstisch. Die junge Mutter hatte ihren letzten Atemzug gemacht, kaum dass er die Nabelschnur durchtrennt und sie kurz darauf die kleine Stimme vernommen hatte. Die Wiederbelebungsversuche des Arztes waren vergeblich gewesen, die offene Wunde des Kaiserschnitts klaffte auf dem Unterbauch der Verstorbenen. Zwei Männer hoben den Leichnam auf eine Trage und brachten ihn hinaus.

Gewürztraminer
     
    »Franz war ein warmherziger, bescheidener und stets hilfsbereiter Mann, der uns allen gezeigt hat, dass man durch harte, kontinuierliche Arbeit reich werden kann, dass reich zu sein keine Schande und dass Eigentum anzuhäufen nobel ist. Die vielen treuen Freundschaften – wir kennen uns noch aus der Zeit, als du ein junger Senator der Südtiroler Volkspartei warst, Franz, und ich dem Drängen vieler Verzweifelter nachgab, um mich der Verantwortung zu stellen und zur Rettung des Landes in die Politik zu gehen …« Der Premierminister hielt einen Augenblick inne und betupfte mit einem weißen Taschentuch die Augenwinkel, dann räusperte er sich und ließ den Blick über die Menge gleiten, die sich im ausladenden Kirchenschiff drängte. In dem frühchristlichen Fußbodenmosaik stritten ein Hahn und eine Schildkröte um einen Schatz, das Symbol des Lebens im Kampf mit dem der Unterwelt, der Häresie, die das Licht der Wahrheit scheut.
    »An was ist er eigentlich gestorben?«, fragte der gelangweilt dreinblickende Herr mittleren Alters in einer mittleren Stuhlreihe, dessen Haar längst einen neuen Schnitt und neue Färbung benötigt hätte.
    »Gewürztraminer!«
    Ein spitzes Lachen zerriss die andächtige Stille und wurde als Echo mehrfach zurückgeworfen.
    Mit hochrotem Kopf richtete der Sitznachbar rasch die himmelblaue Krawatte, die aus dem Jackett geschlüpft war, das über seinem Bauch spannte.
    Für einen Sekundenbruchteil schien die Zeit in der mittelalterlichen Basilika von Aquileia zu verharren, bis sich schlagartig Hunderte von trauernden Menschen umdrehten, um den Schnösel auszumachen, der sich diese respektlose Grobheit erlaubt hatte. Auch die beiden Fabrikanten aus dem Friaul wandten sich sofort um. Keiner der beiden verzog eine Miene. Mittelständische Unternehmer in der Stuhlproduktion bei Manzano, die vorwiegend vom Export lebten und deren Geschäfte noch immer unter dem eklatanten Nachfrageeinbruch der vergangenen Jahre litten. Um Politik hatten sich die Industriellen höchstens dann gekümmert, wenn es darum ging, eigene Interessen durchzusetzen. Den Verblichenen kannten sie nur aus den Medien und von einem Abend, an dem er beim örtlichen Rotary-Club einmal als Gast geladen war und einen Vortrag über sein beispielhaftes Leben hielt. Doch wie der Großteil der Anwesenden fühlten sie sich zur Präsenz verpflichtet: Nur wer sich drückte, fiel auf. Die Fernsehkameras schwenkten über die Köpfe.
    »Niemand, und ich wiederhole es, niemand wage es, die Ehre dieses Mannes zu verletzen, den wir zu Grabe tragen, und der sich um das Land verdient gemacht hat wie wenige andere!« Die Stimme des Premierministers knatterte durch die Lautsprecher wie die Salve aus einer automatischen Waffe. »Eine solche Respektlosigkeit dulden wir
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