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Im eigenen Schatten

Im eigenen Schatten

Titel: Im eigenen Schatten
Autoren: Veit Heinichen
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gehandelt, müsste ich ihre Ausbrüche heute nicht ertragen und wäre ein freier Mensch«, schimpfte Zeno, während er die Spaghetti von der Wand las und vergebens die Spuren der Tomatensoße zu entfernen versuchte. Anschließend schaffte er die Trümmer des alten Tischs hinaus. Beim Trödler hatten sie für wenig Geld bereits zwei andere gekauft, den ersten zum Einzug, den zweiten sechs Monate später, und erst vor kurzem diesen hier.
    Das Schuljahr hatte wie immer mit der letzten Maiwoche geendet. Ob er auch im nächsten an der gleichen Schule wieder einen Job fände, würde Zeno erst ein paar Tage vor Ende der Sommerferien erfahren. Prekariat bedeutete, gedemütigt zu werden, jederzeit abrufbar zu sein und jeden Plan für die Zukunft sogleich aus den Gedanken zu verbannen. Nicht einmal drohen konnte man, wenn man monatelang auf den Lohn warten musste. Der Schwächste übernahm das Beschäftigungsrisiko selbst und die Versicherungsleistungen dazu, selbst wenn der Arbeitgeber die öffentliche Hand war und keine Eile hatte, Schulden zu begleichen. Geld für einen Anwalt war ohnehin keines da. Für die Hochsaison hatte Zeno eine Stelle als Aushilfskellner in einem der unzähligen Hotelrestaurants gefunden. Dieses Mal sogar in einem Viersternekasten, mit einem Großteil an Stammgästen aus Österreich, welche der Hotelier als einigermaßen zivilisiert bezeichnete, und die nicht mit den Trinkgeldern knauserten. Doch bis dahin sollten noch drei Wochen vergehen, welche Zeno nutzte, um Xenia allabendlich zu bekochen, den Gemüsegarten zu pflegen oder mit dem Motorboot zum Fischen aufs Meer hinauszutuckern. In Zeiten anhaltender Finanzkrisen war es ein Glück, wenn man sich selbst versorgen konnte. Auch Xenias Gehalt war trotz ihres hohen Dienstgrades nicht üppig. Dass die Bank auch noch die Kreditlinie einer Beamtin zusammenstrich, war ein starkes Stück; sicherere Kundschaft gab es nicht.
    Trotz ihrer gelegentlichen Ausbrüche war Zeno hoffnungslos in die hübsche Blonde mit ihren leuchtend blauen Augen verliebt. Er wusste, dass Xenia nichts dafürkonnte, und solange er selbst ruhig blieb, war es mit dem Aufräumen danach meist erledigt. Und wenn sie unbeschwert war, konnte man mit ihr Pferde stehlen.
    Vor zwei Wochen erst hatten sie ihren fünfunddreißigsten Geburtstag gefeiert. Damals war der junge Sizilianer schlauer gewesen und hatte seinen brennenden Wunsch, dank der amtlichen Zeremonie sich noch enger mit ihr zu vereinen, für sich behalten. Dabei hätten die Freunde auf der Party bei seinem Antrag sicher begeistert applaudiert.
     
    Kein Schrei ohne Not. Das zweistöckige Haus der Familie Zannier hatte hundert Meter vom Ortskern entfernt gelegen und war bis auf die Grundmauern eingefallen. Die Dachsparren des Gebäudes ragten aus den Trümmern wie dürre Arme, die verzweifelt um Hilfe baten.
    Am 6. Mai 1976 hatten um 21 Uhr 06 heftige Erdstöße die Kleinstadt Gemona am Auslauf des Kanaltals fast komplett zerstört. Auf der Mercalli-Skala wurde das einminütige Beben mit Stufe zehn gemessen, die Richter-Skala schlug auf sechs Komma vier aus. Das Epizentrum hatte am Monte San Simeone gelegen, und noch fünfhundert Kilometer weiter waren Erdverschiebungen registriert worden. Fast tausend Menschen hatten bei der Katastrophe ihr Leben verloren, und über fünfundvierzigtausend das Dach über dem Kopf. In den Tagen darauf rückten Helfer aus halb Europa an. Die ersten Rettungskräfte aber – Sanitäter, Feuerwehrleute und Soldaten –, die aus Triest und dem südlichen Friaul angefahren waren, kämpften sich keine Stunde nach dem Unglück schon mühsam durch die Trümmer der Häuser voran und suchten nach Überlebenden. Immer wieder vernahmen sie verzweifelte Rufe, halberstickte Schreie und Klagelaute von Menschen, die unter Steinen, Balken und Schutt begraben lagen.
    Xenia Lepore, Bibliothekarin der Stadtbücherei, war im siebten Monat schwanger gewesen. Im Wohnzimmer in der ersten Etage war sie in einem Ohrensessel in die Lektüre des Romans »Todo modo« von Leonardo Sciascia versunken, als das Unheil ausbrach. Instinktiv war sie aufgesprungen, die Treppe hinunter zur Haustür gerannt, doch bevor sie den Fuß auf die Straße setzen konnte, hatte ein herabstürzendes Mauerstück die Achtundzwanzigjährige unter sich begraben. Als sie wieder zu Bewusstsein kam, herrschte um sie herum Dunkelheit. Sie wusste nicht, wie lange sie ohne Bewusstsein gewesen war. Die Luft war voller Staub und die bleierne Stille
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