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Im Bann des roten Mondes

Im Bann des roten Mondes

Titel: Im Bann des roten Mondes
Autoren: Susan Hastings
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durch die Straßen und ließ sich von den Passanten begaffen.
    Désirée strich mit einer fast liebevollen Geste über das Buch, das auf ihrem Schoß lag. Gleichzeitig trat ein spöttischer Glanz in ihre blauen Augen. Sie spürte die Blicke der Paare, die auf dem Sonnendeck des Schiffes lustwandelten – die Damen züchtig geschnürt, dass sie kaum zu atmen vermochten, die Herren in steifem Gehrock, gebundenem Kragen und hartem Hut. Alle Damen schützten sich mit Schirmen gegen die unbarmherzige Sonne, die vor der Küste Nordafrikas auf sie herniederbrannte. Lediglich Désirée lag auf ihrer Sonnenliege bar jeden Schutzes, das Kleid lässig über die Beine gebreitet, sodass ihre schlanken Waden zu sehen waren. Ihr Gesicht hatte sich leicht gerötet, und eine Unzahl von Sommersprossen zierte ihre kesse, kleine Nase.
    Für einen Augenblick hatte sie von ihrer Lieblingslektüre gelassen und sich ihren Tagträumen hingegeben. Ja, diese George Sand war eine Frau ganz nach Désirées Geschmack. Sie hätte sie gern kennen gelernt, wenn sie nicht vor fünfzehn Jahren gestorben wäre und sich die ganze Geschichte nicht bereits vor fast vierzig Jahren zugetragen hätte. Da begleitete diese außergewöhnliche Frau ihren erkrankten Lebenspartner Frédéric Chopin auf die Insel Mallorca, der in klarer Luft und absoluter Ruhe seine Krankheit auskurieren wollte. Dass er mit dieser Frau gar nicht verheiratet war, dass sie von ihren beiden unehelichen Kindern begleitet wurden, dass sie wie auch ihre Tochter häufig Männerkleider trug, dass sie sogar in aller Öffentlichkeit Zigarren rauchte, war nicht nur zur damaligen Zeit, sondern auch jetzt noch ein Skandal.
    Mit einem wohligen Kribbeln im Bauch hatte Désirée just in dem Augenblick, als das Schiff auf dem Weg von Marseille nach Algier an jener berühmten Insel im Mittelmeer vorbeifuhr, das Buch aus ihrem Reisegepäck genommen und sich auf das Flanierdeck gesetzt. Alle Vorbeikommenden sollten sehen, welcher Lektüre sie sich da widmete, und alle Welt sollte sehen, dass sie sich so ziemlich mit dieser skandalumwitterten Frau identifizierte.
    Nun, Désirée rauchte öffentlich keine Zigarren, nur manchmal heimlich. Auch hatte sie keine Kinder, und sie war verlobt mit Philippe Duval, einem Bergbauingenieur. Das war ihr Tribut an die gutbürgerliche Welt, den sie zollte. Philippe hatte trotz ihrer wenig standesgemäßen familiären Verhältnisse um ihre Hand angehalten, und Papa hatte erfreut zugestimmt. Philippe konnte ihr eine gesicherte Existenz bieten. Sein Gehalt bei der Montagne Nationale war zwar nicht üppig, aber durchaus akzeptabel, er nahm nur wenig Anstoß an Désirées Kaprizen und vertröstete sich selbst damit, dass Désirée sich schon von selbst beruhigen würde, wenn sie erst einmal mit ihm verheiratet sei. Das Dumme war nur, dass er sich derzeit in Algerien befand, um dort im Atlasgebirge Rohstoffvorkommen zu erschließen. Und nun war auch ihr Vater nach Algerien aufgebrochen, weil er Kunde von irgendwelchen geheimnisvollen Felsmalereien in der Sahara erhalten hatte. Sehr zu Désirées Verdruss hatte er diesmal darauf bestanden, dass Désirée daheim in Paris blieb.
    Zunächst kamen die Nachrichten von Vater regelmäßig, dann unregelmäßig und schließlich blieben sie gänzlich aus. Der letzte Brief war über zwei Monate alt. So weit kannte Désirée ihren Vater, dass er es immer ermöglichte, ihr eine Nachricht zukommen zu lassen, wenn sie ihn nicht auf seinen Ausgrabungen begleitete. Beunruhigt hatte sie Philippe informiert und ihn gebeten, Erkundigungen anzustellen. Doch auch Philippes letzter Brief hatte keine Klarheit bringen können. Der Professor sei zu einer Expedition in die Sahara aufgebrochen. Sie solle sich keine Sorgen machen, das Innere des Landes sei noch nicht wie gewünscht mit Poststellen ausgestattet, wie man es sich in einer Kolonie eigentlich vorstellte. Aber das beruhigte Désirée keineswegs. Ihr Gefühl sagte ihr, dass ihr Vater in Gefahr sei.
    Etienne Montespan war ihre eigentliche Bezugsperson, sei es, dass er ihr die gewünschte persönliche Freiheit gelassen hatte, sei es, dass sie in ihm den Mann sah, der ihr das Leben schlechthin ermöglichte. Er war stark wie ein Fels in der Brandung auch gegen seine Feinde, unerschütterlich, zielbewusst und trotzdem ein zärtlicher, liebevoller, aufmerksamer Vater. Durch ihn hatte sie die Welt, die Kultur, das ungeschminkte Leben kennen gelernt. Die gesellschaftliche Enge des bürgerlichen Paris
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