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Im Bann der Dunkelheit

Im Bann der Dunkelheit

Titel: Im Bann der Dunkelheit
Autoren: Dean R. Koontz
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rücksichtsvoll zu Boden. »Chris. O Gott.«
    »Was ist los?« fragte ich erneut, während ich vom Rad stieg.
    »Jimmy ist weg.«
    »Weggelaufen? »
    »Nein.« Sie wandte sich von mir ab und eilte auf das Haus zu. »Hier entlang, komm, sieh selbst.«
    Lillys Grundstück wird von einem weißen Palisadenzaun umgeben, den sie selbst gebaut hat. Der Eingang ist nicht durch Torpfosten markiert, sondern durch zwei Bougainvillea, die sie baumförmig beschnitten und zu einem Baldachin vereint hat. Ihr bescheidener Cape-Cod-Bungalow liegt am Ende eines mit einem komplizierten Muster gefliesten Weges, den sie selbst entworfen und angelegt hat, nachdem sie das Gartenbauhandwerk aus Büchern gelernt hatte.
    Die Haustür stand offen. Dahinter lagen Räume, die mit tödlicher Helligkeit lockten.
    Statt Orson und mich ins Haus zu führen, verließ Lilly jedoch schnell den Weg und lief über den Rasen voran. Als ich in der stillen Nacht das Fahrrad über das kurzgeschnittene Gras schob, war das Klacken der Radlager das lauteste Geräusch. Wir gingen zur rechten Seite des Hauses.
    Ein Schlafzimmerfenster war hochgeschoben. Der Raum wurde von einer einzigen Lampe erhellt, und der Stoff des gefältelten Lampenschirms warf Streifen aus bernsteinfarbenem Licht und matten, honigbraunen Schatten auf die Wände. Im Bücherregal links vom Bett standen Star-Wars Figuren. Da die kühle Nachtluft die Wärme aus dem Haus sog, war einer der Vorhänge über das Fensterbrett gezogen worden und flatterte jetzt bleich wie ein ängstlicher Geist, der noch zögert, diese Welt zu verlassen und in die nächste überzuwechseln.
    »Ich bin mir sicher gewesen, daß das Fenster fest geschlossen war, aber offenbar habe ich mich geirrt«, sagte Lilly verzweifelt. »Jemand muß es geöffnet haben, irgendein Arschloch. Er hat Jimmy mitgenommen.«
    »Vielleicht ist alles halb so schlimm.«
    »Irgendein perverser Mistkerl«, beharrte sie.
    Der Lichtstrahl wackelte, und Lilly bemühte sich, die zitternde Hand ruhig zu halten, als sie die Lampe auf das Blumenbeet neben dem Haus richtete.
    »Ich habe kein Geld«, sagte sie.
    »Geld?«
    »Um Lösegeld zu bezahlen. Ich bin nicht reich. Also hat man Jimmy nicht entführt, um Lösegeld zu erpressen. Es muß was Schlimmeres sein.«
    Falsche Salomonssiegel mit üppigen gefiederten Büscheln weißer Blüten, die wie Eis funkelten, waren von dem Eindringling niedergetrampelt worden. Auf den abgebrochenen Blättern und im feuchten, weichen Erdboden waren Fußabdrücke zu sehen. Es waren nicht die eines Kindes, sondern die eines Erwachsenen in Turnschuhen mit markantem Profil, und der Tiefe der Abdrücke zufolge handelte es sich um eine große Person, höchstwahrscheinlich um einen Mann.
    Ich sah, daß Lilly barfuß war.
    »Ich konnte nicht schlafen, ich habe ferngesehen, irgendeine blöde Serie«, sagte sie, wie um sich selbst zu geißeln, als hätte sie eine Entführung vorhersehen und deshalb wachsam an Jimmys Bett ausharren müssen.
    Orson schob sich zwischen uns und schnüffelte an den Fußabdrücken in der Erde.
    »Ich habe nichts gehört«, sagte Lilly. »Jimmy hat nicht geschrien, aber ich hatte so ein komisches Gefühl...«
    Ihre übliche Schönheit, so klar und tief wie eine Spiegelung der Ewigkeit, wurde nun von panischer Angst verzerrt, von den scharfen Falten einer Qual, die fast schon an Trauer grenzte. Nur noch ein verzweifelter Hoffnungsschimmer schien sie aufrecht zu halten. Selbst im schwachen Licht der Taschenlampe, das auf sie zurückgeworfen wurde, konnte ich kaum den Anblick ertragen, daß sie solch einen Schmerz empfand.
    »Es wird schon alles in Ordnung kommen«, sagte ich und schämte mich sofort dieser banalen Lüge.
    »Ich habe die Polizei angerufen«, sagte sie. »Sie müßte jeden Augenblick hier sein. Wo bleibt sie denn nur?«
    Persönliche Erfahrungen hatten mich gelehrt, den Behörden von Moonlight Bay zu mißtrauen. Sie sind korrupt. Und dabei handelt es sich nicht nur um eine moralische Korrumpierung, nicht einfach um das Einstecken von Schmiergeld und das Ausleben von Machtlust. Ihre Korruption hat tiefere und beunruhigendere Ursachen.
    In der Ferne war kein Sirenenjaulen zu hören, aber ich erwartete das auch nicht. In unserer ganz besonderen Stadt reagiert die Polizei mit äußerster Diskretion auf Notrufe, sogar ohne die stumme Fanfare aufblitzender Signallichter, da sie es mindestens bei der Hälfte aller Einsätze nicht darauf anlegt, einen Übeltäter zu ergreifen, sondern ein
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