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Im Auge der Sonne: Roman (German Edition)

Im Auge der Sonne: Roman (German Edition)

Titel: Im Auge der Sonne: Roman (German Edition)
Autoren: Barbara Wood
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und dem schwarzen Umhang um die Schultern über uns erhob, wie ein Riese. Er holte goldene Ringe aus seiner Schärpe. »Ich habe Geld. Wir werden uns zum Schutz mit anderen Familien zusammentun.«
    »Wir können doch nicht einfach unser Zuhause aufgeben!«, rief Rakel.
    »Mutter, sobald die Truppen des Pharaos die Stadt gesichert haben, werden sie diese Hügel nach Flüchtigen durchkämmen. Wir haben keine Wahl.«
    Sie dachte darüber nach, sagte dann sehr ernst: »Ich hatte einen Traum, der diese Nacht voraussagte. Als ich meinem Gatten davon berichtete, meinte er, das habe nichts zu bedeuten, ich solle es vergessen. Jetzt aber habe ich begriffen, dass Träume Botschaften aus der unsichtbaren Welt sind. Möglicherweise sogar vom Allerhöchsten. Nichts auf sie zu geben ist falsch. Ich für meinen Teil werde nie wieder die prophetische Macht der Träume unterschätzen.«
    An ihren Sohn gewandt, fuhr sie ruhig fort: »Wir haben Verwandte im Norden. Lass uns aufbrechen.« Sie, die Älteste von uns, bewahrte einen kühlen Kopf, und auch wenn sie jetzt Witwe war, durfte sie sich nicht den Luxus erlauben, ihren Gefühlen weiterhin freien Lauf zu lassen.
    Dies hat sich mir von jener Nacht am tiefsten eingeprägt. Tante Rakels Kraft. Ihre Präsenz, die durch nichts aus der Ruhe zu bringen war. »Avigail«, sagte sie zu mir, »dir kommt es ab sofort zu, dich um deine Schwestern zu kümmern. Wir haben einen langen Weg vor uns. Wir müssen aufeinander achtgeben. Verlier nicht den Glauben. Der Allerhöchste wird uns zu einem neuen Zuhause im Norden führen. Und jetzt wollen wir beten und uns dann nach Ugarit in Syrien aufmachen.«
    Ich schaute auf die Stadt, in der ich das Licht der Welt erblickt und in der ich nur Glückseligkeit und Sicherheit kennengelernt hatte, und spürte, wie mir das Herz brach. Der Schmerz war unerträglich. Mein Vater tot, mein Onkel tot. Meine Mutter, deren kopfloser Leichnam auf einem Acker lag. Und wo war Benjamin, mein Liebster? Obwohl Tante Rakel uns versicherte, dass die Verwandten in Ugarit uns aufnehmen würden, wusste ich, dass ich in jener fernen Stadt, in einem Haus, das nicht das unsere war, niemals glücklich sein würde.
    Wir kehrten also Jericho den Rücken und begannen unseren kummervollen Exodus, klammerten uns aneinander, weinten, verließen unser angestammtes Zuhause mit nichts weiter als dem, was wir am Leibe trugen. Wir gingen auf in einem Strom heimatloser Flüchtlinge, ohne zu wissen, was die Zukunft für uns bereithielt. Aber auch wenn wir unsere wertvollen Besitztümer – Möbel aus Zedern- und Pinienholz, Vasen aus Alabaster und Malachit, Juwelen, die über Generationen hinweg weitervererbt worden waren – zurückließen, nahmen wir dennoch etwas Kostbares mit: die Geschichte unserer Familien, Namen, Ereignisse, Tragödien und Triumphe – aber auch Geheimnisse, die jede Familie hat –, alles immer wieder in Erinnerung gebracht und in unseren Herzen bewahrt. Wir mochten zwar unsere Häuser verlieren, unsere Identität hingegen niemals. Wir würden uns immer bewusst sein, dass wir Kanaaniter waren, Nachfahren von Shem, dem Sohn Noahs, und deshalb auserwählt von El, dem Allerhöchsten.
    Für mich, Avigail bat Shemuel, geschah es nicht in jener Nacht, als Jericho an Ägypten fiel, nicht auf unserer Flucht nach Jerusalem, wo uns Freunde aufnahmen und mit Proviant für die vor uns liegende beschwerliche Wanderung versorgten, sondern irgendwo in den Ebenen von Sharon und Jesreel, irgendwo im Bergland westlich von Galiläa, als wir bei Nomaden und Schafhirten unser Lager aufschlugen – der alte Avraham, meine verwitwete Tante Rakel, ihr Sohn Yacov, meine beiden Schwestern, drei Diener und ich –, als ich zum Allerhöchsten für die Seelen meines Vaters, meines Onkels, meiner Mutter und meines geliebten Benjamin betete, als ich unter kalten, mir unbekannten Sternen schlief und meine Gedanken um meine ungewisse Zukunft kreisten, als ich in meine Hände schluchzte und glaubte, mein gebrochenes Herz würde nie wieder heilen – in jenem Moment geschah es, dass ich einen Schwur ablegte: heimlich, leise flüsternd, nur für mich bestimmt.
    Ich schwor, mir nie wieder mein Zuhause wegnehmen zu lassen. Nie wieder zuzulassen, dass eine feindliche Macht meiner Familie ein Leid antat. Bis zum Ende meines Lebens, wo immer mein Weg mich hinführen, welch unbekannte Stadt, welch fremdes Land auch immer ich betreten würde, ich schwor mir, Wurzeln zu schlagen, einen Platz für mich und meine
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