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Idealisten der Hölle

Idealisten der Hölle

Titel: Idealisten der Hölle
Autoren: M. John Harrison
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nachschrie.
    Wendover wohnte in dem einzigen modernen Haus des Dorfes.
    Er hätte es vorgezogen, die Praxis seines Vorgängers zu übernehmen, ein großes finsteres Gebäude, um das Nadelbäume wie dunkle, lebendige Flammen standen. Drei Jahre zuvor war er sehr angetan gewesen von dem Gedanken, sich hinter den hohen, kieselverkleideten Mauern mit dem Fluß, der an den verfallenen Stufen am Ende des Gartens vorübergeisterte, einzuschließen, aber seine Frau hatte auf dem hellen, weitläufigen Bungalow bestanden, und er hatte sich mit der Zeit daran gewöhnt.
    Gebaut – und daran würde er sich niemals gewöhnen – von Vanessas Geld, hatte es etwas Kitschiges, Unechtes. Er erwartete ständig, daß es, wie die Gebäude von Elstree und Hollywood, nichts war als eine aus Balken gezimmerte Fassade – bunte Pappe über dürftigen Latten. Gelbbraun gestrichener Stein mit abgesetztem Holzwerk und großen Panoramafenstern, so klebte es ungemütlich zwischen professionell zugeschnittenen Blumenbeeten und Steingärten. Die Flußwiesen verhöhnten es mit düsteren Schattierungen von Grün, wucherndem Dornengestrüpp und den heiseren Schreien der Krähen.
    Vanessas Hochnäsigkeit hatte sich mit leisem Spott gegen sie gewandt: Eine Meile weiter, hinter einem dünnen Baumfries, schürften die schweren Maschinen einer Baufirma die Erde kahl und flach, um die Fundamente für ein Erschließungsprojekt zur Bewältigung des Bevölkerungsüberschusses zu legen; da, wo der Bungalow zuvor die zweifelhafte Auszeichnung besessen hatte, andersartig zu sein, würde er jetzt nur noch einer in einer Reihe glänzender Kaninchenställe sein.
    Zweifellos würde Vanessa darauf bestehen, daß sie in die alte Praxis zurückgingen.
    Wendover schritt die rot asphaltierte Auffahrt hinauf. Er hielt inne, seine Finger glitten über die feuchte Flanke von Vanessas hellgrünem Turbinenwagen, und er blickte nachdenklich in den Regen, der die Weite der Felder mit Nebel überzog. Er nahm seine ganze Geduld zusammen und trat ein.
    Nach der Kälte des Morgengrauens wirkte das zentralbeheizte Innere wie ein Treibhaus.
    Vanessa saß in ihrem gemeinsamen Schlafzimmer vor dem großen, verzierten Spiegel an der Frisierkommode. Wendover wurde mit einer Bitterkeit, die er nicht länger unterdrücken wollte, klar, daß er ihr Gesicht selten außerhalb des begrenzenden Spiegelrahmens sah. Tief geängstigt durch die infolge der Strahlungszunahme ausbrechenden Hautkrankheiten verharrte sie stundenlang in sorgfältig genauer Untersuchung ihrer Gesichtszüge und benutzte eine verwirrende Vielfalt von Schönheitswässerchen und -sälbchen.
    Die Eitelkeit war wohlüberlegt. Vanessas Körper war ein Anker, ein unvollkommener Mechanismus: Ohne die perfekte Haut, die weichen Züge mit den hohen Wangenknochen, die hübschen Augen, würde er nicht mehr funktionieren. Niedergeschlagen durch das aufrichtige Eingeständnis einer Tatsache, die ihm längst bekannt war, saß Wendover auf dem Bett und spürte, wie die Erschöpfung der Nacht Besitz von ihm ergriff.
    Eine Minute lang schwieg sie, beschäftigt mit der eindringlichen Untersuchung ihrer linken Schläfe. Sie saß bequem auf dem Toilettenstuhl, ihr gerader Rücken war nackt bis auf den schmalen weißen Streifen des Büstenhalters und den Bund eines knappen Stützslips. Ihre Haut war samtig und angenehm anzusehen. Die Muskeln darunter strafften sich, als sie sich anschickte, Notiz von ihm zu nehmen.
    Mit einer übertrieben lebhaften Bewegung, die Nervosität verriet, ließ sie ein rosafarbenes Reinigungstuch fallen, wandte ihre Aufmerksamkeit seinem Bild im Spiegel zu. Ihre Augen waren direkt, blau, verwirrend. Sie vermittelten den Eindruck von Tiefe.
    »Steh vom Bett auf, Clement. Dein Mantel ist ganz naß.«
    Drei Jahre lang hatte ihre Stimme an seinen Nerven gefressen – die Widerspiegelung ihrer Herkunft aus Cheltenham, die seine Unebenbürtigkeit hervorhob. Jetzt setzte sie sie mit einem genau berechneten Maß an Geduld ein, als spräche sie zu einem unartigen Kind. Er kannte das Spiel. Es würde einen Streit geben, und sie würde höflich bleiben, während er die Vanessa, von der er sicher war, daß sie irgendwo dort drinnen sein mußte, grob anschrie; automatisch würde seine Grobheit sie in die Rolle der beleidigten Partei versetzen. Aber er hatte die Nacht damit zugebracht, die Symptome einer Welt im Niedergang zu beobachten; das System brach auseinander, zeigte die Schwäche an seinen Fugen; und ein Gefühl der
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