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Ich sehe dich

Titel: Ich sehe dich
Autoren: Janet Clark
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ähnelte. Im Gegensatz zu Tini hatte sie seine dunklen Haare, fast schwarzen Augen und dichten Wimpern geerbt. Sie drehte ihre Haare zu einer Schnecke und befestigte diese von neuem mit dem Bleistift im Nacken. Aus dem Lautsprecher tönte noch immer das Freizeichen. Sara griff nach dem Telefon, um aufzulegen, als sie endlich Tinis verschlafene Stimme hörte.
    »Ja?«
    »Tini! Endlich! Wo warst du, verdammt? Ich hab mir Sorgen gemacht!«
    »Hallo Sara.«
    Sara hörte Tini gähnen.
    »Liegst du noch im Bett?«
    Im Hintergrund lief der Fernseher. Tini musste davor eingeschlafen sein, sie sah nie tagsüber fern.
    »Nein.«
    »Du klingst verschlafen.« Mit einem Buch in der Hand ging Sara zu dem Bücherregal auf der anderen Seite des breiten Altbauflurs. Sie suchte nach einer Lücke in den Bücherreihen und quetschte das Buch schließlich zwischen Die Buddenbrooks und einen Krimi. Aus dem Telefonhörer schallte die hektische Stimme eines Moderators.
    »Wie spät ist es?«, fragte Tini.
    Sara warf einen Blick auf ihre Uhr. »Fünf vor halb neun.«
    »Kacke!«
    »Du liegst doch noch im Bett.« Sara sah ihre Schwester vor sich. Wie sie die blonden Haare hinter ihre Ohren strich, obwohl sie dort nie lange blieben, während ihre blauen Augen einen so intensiv musterten, als versuche sie, Gedanken zu lesen. »Wir waren verabredet, bei Edina, erinnerst du dich? Wegen dem Interview. Du hattest versprochen, dass du pünktlich kommst.«
    »Ja … Sorry. Ich hab verpennt.« Die Stimme des Moderators im Hintergrund verstummte.
    »Toll. Ich …«
    »Sara, reg dich ab, ja? Ich bin gestern nach der Weihnachtsfeier auf dem Sofa eingeschlafen. Im Wohnzimmer. Da höre ich den Wecker nicht.«
    »Aber ich hab dich doch angerufen.«
    »Und ich hab’s nicht gehört. Okay? Wahrscheinlich habe ich gestern zu viel Wein erwischt. Ich fühle mich, als hätte mir jemand mit dem Hammer auf den Kopf gehauen. Sag lieber, wie’s gelaufen ist.«
    »Naja, mäßig. Mit dir wäre sie sicher offener gewesen.«
    Sara spürte, wie ihre Verärgerung wieder hochkam. Wäre Tini wie versprochen um halb sieben am Treffpunkt gewesen, hätte sie nicht die Hälfte der Zeit damit verbringen müssen, Edinas Vertrauen aufzubauen, um überhaupt verwertbare Aussagen für ihren Artikel über häusliche Gewalt zu erhalten.
    »Hat es dir was gebracht?« Tinis Tonfall nahm eine versöhnliche Note an. Sara überlegte kurz, ob sie darauf eingehen sollte.
    »Schon.« Sie ging weiter in ihr Arbeitszimmer. »Allein ihre Reaktion, als ich sie auf ihr Baby angesprochen habe.«
    »Ja, traurige Geschichte.«
    »Ich versteh das nicht. Warum geht sie nicht? Hat er sie nicht auch geschlagen?« Sie setzte sich an ihren Schreibtisch und schaltete den Computer an.
    »Ja klar. Der behandelnde Arzt hat das Jugendamt eingeschaltet. Wegen dem Baby. Seitdem betreue ich sie.« Tinis Stimme klang jetzt resigniert, wie so oft, wenn sie über ihre Arbeit als Sozialarbeiterin sprach.
    »Warum also?«
    »Weil sie glaubt, dass sie keine Chance hat, wenn sie sich wehrt. Ich erlebe das doch jeden Tag, was glaubst du, wie mich das frustriert.« Tini seufzte. »Und weil sie nichts anderes kennt und sich verantwortlich fühlt.«
    »Verantwortlich? Für einen Mann, der sie schlägt, und eine Familie, die sie wie Dreck behandelt?«
    »Ach, Sara, würdest du aufhören, dich verantwortlich zu fühlen?«
    »Ja. Allerdings.« Sie bemerkte die Schärfe in ihrem Tonfall und riss sich zusammen. »Wenn mein Grundrecht auf körperliche Unversehrtheit angegriffen wird …«
    »Man muss die Hand nicht heben, um jemanden zu verletzen«, unterbrach Tini sie.
    »Ich weiß nicht, worauf du hinauswillst.«
    »Natürlich weißt du das.«
    Sara hörte, wie ihre Schwester Geschirr aufeinanderstapelte. »Unglaublich, Paul schafft es nicht mal, seinen Dreck wegzuräumen. Hier stinkt’s wie in einer Currybude. Widerlich. Egal, ich wollte nur sagen, dass du ein Grundrecht auf körperliche und seelische Unversehrtheit hast. Du berufst dich nur auf die körperliche.«
    »Und? Körperliche Gewalt ist nun mal die offensichtlichere.«
    »Eben. Aber nicht unbedingt die schlimmere. Was tut Edina wohl mehr weh – die angebrochene Rippe oder die Tatsache, dass sie ihr Kind aufgeben muss?« Tini stellte das Geschirr lautstark ab. »Schwieriges Thema, ich weiß. Vielleicht kannst du das ja in deinem Artikel berücksichtigen.«
    »Ich werd sehen«, antwortete Sara.
    »Ich muss jetzt Schluss machen, sonst verpasse ich meinen nächsten
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