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Ich liebe dich nicht, aber ich möchte es mal können

Titel: Ich liebe dich nicht, aber ich möchte es mal können
Autoren: Tessa Korber
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permanente Adrenalinausstoß sein Gehirn deformiert? Ich fürchte mich noch immer so sehr vor der Antwort, dass ich es bis heute nicht gewagt habe, einem Arzt diese Frage zu stellen. Lächerlich, nicht wahr?
    Auch meine Ehe war, auf den zweiten Blick, nicht mehr das, was sie mal gewesen war. Andererseits: Was war sie je gewesen? Mir ist das Gespür dafür verlorengegangen. Ich brauche ein Foto aus unserer Kennlernzeit, um mir anhand des Blickes, den wir uns darauf zuwerfen, zu bestätigen, dass wir mal ineinander verliebt waren. Oder Jonathan, der mich kürzlich bat, die handschriftlichen Aufzeichnungen vorzulesen, die ich seinem Fotoalbum beigelegt hatte. Er konnte sie nicht entziffern, kein Wunder bei meiner Sauklaue. Beim Vorlesen wurde mir klar, dass wir gute Zeiten gehabt hatten. Es war das Tagebuch, das ich an dem Tag begonnen hatte, an dem ich erfuhr, dass ich mit Jonathan schwanger war. Ich führte es bis in die ersten Wochen nach seiner Geburt, bis die Arbeit das Weiterschreiben unmöglich machte. Es war für ihn und für mich eine schöne Lektüre: »Jedes Mal, wenn dein Vater dran war mit Wickeln, und sei es mitten in der Nacht, hob er dich als Erstes mit Schwung hoch über seinen Kopf, strahlte dich an und rief mit begeisterter Stimme ›Wickelkind‹.« Ich hatte es vergessen, aber es war so gewesen.
    Schon das Jahr, in dem wir eine Wochenendbeziehung führten, hatte vieles verändert. Der Schwung war weg, die Begeisterung auch. Als Paar existierten wir kaum noch. Ich dachte: Die viele Arbeit, der Stress, die Dissertation mit ihrer Kopflastigkeit, die Mehrfachbelastung, all das wird schuld sein. Wenn wir erst einmal wieder zusammen sind, er eine feste, zukunftssichere Stelle hat und alles wieder seine Form besitzt, dann fängt unser Leben an. Dann würden wir in unserem Reihenhaus auf dem Land miteinander leben und zur Ruhe kommen.
    Wir hatten schlechte Zeiten gehabt, die würden vorbeigehen. Es war auf beiden Seiten Aufbruchswille da. Simon sollte unseren Neuanfang besiegeln. Später, als mit ihm dann alles losging, wurde die Frage, was sich zwischen uns abspielte oder nicht abspielte, was wir uns wünschten oder nicht, vom Leben oder voneinander, ohnehin vollkommen sekundär.
    Tatsächlich sorgte Simon schon vor seiner Ankunft für ein kleines Wunder: Die anstrengende Mehrfachbelastung der letzten Jahre, die auch emotional einigen Spagat verlangt hatte, hatte mir, wie gesagt, eine Reihe von Warnkrankheiten beschert. Vom letzten Hörsturz hatte ich einen üblen Tinnitus zurückbehalten, ein schepperndes metallisches Geräusch, das sich über alle Klänge legte und es zu einer Qual machte, sich in Räumen mit hohem Geräuschpegel aufzuhalten. Kneipen oder Restaurants waren ein Alptraum, manchmal flüchtete ich förmlich die Straße entlang vor dem nächsten Motorengeräusch. Jeder Laut schien nur gemacht, um mich zu quälen. Am schlimmsten aber war die Stille, wenn alles um mich herum zur Ruhe kam, nur in meinem Kopf alles surrte und schepperte.
    Im sechsten Schwangerschaftsmonat war damit Schluss. Die erhöhte Blutmenge, die in meinen Adern kreiste, oder wer weiß, welcher Effekt es war, ließ den Tinnitus verschwinden. Es war traumhaft.
    Die Geburt verlief ebenfalls hoffnungsvoll. Nicht dass ich nicht vor Schmerzen geschrien und mit den Nägeln versucht hätte, mich durch die Wand hinter der Liege im EKG -Zimmer zu graben, und gebrüllt hätte: »Mit wem muss ich hier verhandeln, ich will eine PDA !« (Natürlich kriegte ich keine.) Aber ich schaffte es, bis zum Ende zu atmen. Es wurde keine Glocke und keine Zange gezückt wie bei Jonathan, der stecken blieb, da meine Wehen offenbar zu schnell, zu kurz, zu wenig voranschiebend waren. Simons Geburt bescherte mir einen schmerzhaften Dammriss, zu dem ich die Vision eines explodierenden Rosettenfensters in einer gotischen Kathedrale hatte, ein Bild aus einem abgedrehten Comic von Boucq, das mir in diesem Moment klar vor Augen stand. Ich verlor mich trotzdem nicht im Schmerz wie beim ersten Mal, driftete nicht ab in irgendwelche roten Lande, um anschließend zu kaputt zu sein, um mich gegen die Aufnahme auf Station zu wehren. Ich stand es durch und ging morgens um acht, stolz auf mich und ihn, mit meinem Kind nach Hause.
    Tausendmal habe ich Simon später erzählt, wie das war, als wir dort ankamen: Was Jonathan sagte, als er ihn das erste Mal
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