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Ich liebe dich nicht, aber ich möchte es mal können

Titel: Ich liebe dich nicht, aber ich möchte es mal können
Autoren: Tessa Korber
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Ende der Leitung: »Mein Kind ist kaputtgegangen.« Es war, so empfand ich es, einfach zerbrochen.
    Dieser Satz hat mich Überwindung gekostet. Ich hatte keine Vorstellung davon, welche Überwindungen noch kommen sollten. Erst die Ergotherapie, ein soziales Stigma, wie ich damals fand. Heute gehen wir in fünf Therapien, und ich bin für jede dankbar. Aber damals habe ich mich geschämt. Kaum, dass ich es jemandem zu erzählen wagte.
    Die nächste Abweichung vom Pfad der Erwartungen: der Kinderpsychiater. Man steht auf dem Gehsteig und blickt scheu nach links und rechts, ehe man zum ersten Mal die Praxis betritt. Hoffentlich sieht mich keiner. Im Wartezimmer beobachtet man aus den Augenwinkeln neugierig die anderen Eltern, diese Verlorenen. Was haben die für ein Problem? Wie benehmen die sich? Gehören wir da jetzt dazu?
    Und am Ende: das Ende. Die Behindertenschule, all die schlitzäugigen Trisomiekinder, die spastisch Gelähmten mit den sabbernden Mündern in ihren Rollstühlen, die seltsam Verwachsenen, Grunzenden, Hässlichen, Aussortierten. Gehörten wir da jetzt hin, ganz ans Ende des Spektrums?
    Bitte seien Sie nachsichtig mit mir, nichts gegen Förder- oder Behindertenschulen. Heute haben wir dort unser Zuhause. Aber vielleicht erinnern Sie sich an die Hysterie und die heftigen Kämpfe, die an den Grundschulen in den vierten Klassen aufflammen, wenn es um die Frage geht: Gymnasium oder nicht, so, als ginge es um alles und jenseits des Königswegs Bayerisches Gymnasium sei kein menschenwürdiges Leben möglich. Auch wir waren nicht frei davon; wir hatten immerhin zwei Doktortitel aufzuweisen und gingen natürlich davon aus, dass unsere Kinder später einmal studieren würden. Beim Großen hat das auch alles wunderbar funktioniert. Doch für Simon führte die Rolltreppe scheinbar abwärts.
    Es war ein heftiger Moment, nach drei Jahren des Wartens, Therapierens und Diagnostizierens, als die Scherben unserer Kindesträume den Namen Autismus bekamen. Ärzte sind vorsichtig mit Diagnosen in diesem Alter, alles nennt sich erst einmal »Entwicklungsverzögerung«, eine Lumpensammler-Kategorie; man will sich nicht vorzeitig festlegen, keine Pferde scheu machen. Entwicklungsverzögerung heißt schlicht, dass etwas nicht stimmt. Aber auch, dass es noch werden kann.
    Bei Autisten zieht sich dieses Hoffen und Bangen und Zerren oft Jahre hin. Es war der Ergotherapeut, der uns als Erster die Wahrheit sagte, die im Grunde offensichtlich war. Wir hatten uns nur angewöhnt, sie nicht zu sehen. Wir klammerten uns an die Traumathese, den Verspätungsverdacht. Und wir waren ja inzwischen bereit, jeden Umweg mit Simon zu gehen, wenn er nur irgendwann wieder in die Normalität mündete. Jeden Fachmenschen, der mit Simon zu tun hatte, fragte mein Mann, in sehr aggressivem Ton: »Und, wird das jemals wieder werden?« Noch jeder war uns ausgewichen. Wir erwarteten gar nichts anderes mehr.
    Umso überraschender kam die Antwort.
    Simons Ergotherapeut, ein Mann mit einfühlsamem Wesen und leiser Stimme, sagte auf seine ebenso sanfte wie leise, sehr leise Weise einfach: »Nein, das wird es nicht.«
    Mein Mann bekam einen Kreislaufzusammenbruch. Er wurde weiß und sank vom Stuhl. Wir legten seine Füße hoch.
    Ich blieb, wo ich war. Ich saß an diesem Tisch, starrte vor mich hin und wiederholte immer wieder: »Ich habe es gewusst. Ich habe es gewusst.« Dann sagte ich noch, ohne mich zu rühren: »Jemand sollte ihm ein Glas Wasser geben.«
    Näher als in diesem fernen Moment sind mein Mann und ich einander nie wieder gekommen.
    Rückblickend war das trotz allem ein guter Moment. Weil man ganz unten angekommen war, so weit unten, dass man endlich wieder festen Boden unter den Füßen hatte, egal, wie schlimm die Wahrheit war. Der Verlust aller Hoffnungen kann einen sehr soliden Halt geben.
    Ist das also der Beginn unserer Geschichte?
    Oder soll ich mit dem Jahr 2008 anfangen, in dem ich mich von Simons Vater trennte, um nur noch mit meinen beiden Söhnen zu leben? Als ich keine Lust mehr hatte, allein die Fassade einer heilen Familie aufrechtzuerhalten und mich zu lieben zu bemühen, wo definitiv keine Liebe mehr war, auch in mir selbst nicht mehr. Wie anstrengend, sich so lange zu belügen. Und als dann endlich die Angst weg war, dass das ganze vertraute Leben fortbrechen würde, und es tatsächlich umstandslos
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