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Ich haette dich geliebt

Ich haette dich geliebt

Titel: Ich haette dich geliebt
Autoren: Anne Haferburg
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für Frauen, die sich bis maximal dreißig Zeit ließen. Sämtliche Ärzte rieten ihr zu einer Abtreibung, so groß war die Angst, die „alte Dame“ könne bei der Geburt zu schaden kommen. Niemand konnte sich vorstellen, dass da ein gesundes Kind das Licht der Welt erblicken würde. Meine Mutter blieb stur und ließ sich nicht beirren. Ich kam klein, aber gesund zur Welt.
    Immer wieder gab es Missverständnisse. In den Geschäften fragte man mich, ob die Frau an meiner Hand meine liebe Oma sei. Die Empörung darüber, dass jemand meine Mutter für meine Oma hielt, war so groß, dass ich in Tränen ausbrach. Meine Mutter hingegen lächelte so was beiseite. Sie war in dieser Hinsicht nicht eitel, obwohl sie viel Wert auf ihre äußere Erscheinung legte. Ohne perfekte Frisur und einen beerenfarbenen Lippenstift verließ sie kaum das Haus. Ihre Erscheinung war groß und stattlich. Perfekt taillierte Kleider umschmeichelten ihren weiblichen Körper und ließen sie zumindest figürlich wie eine Sophia Loren aussehen.
    Meine Figur hingegen hat mit stattlich nichts zu tun. Ich bin dünn. Und meine Haare sind zu fein und zu glatt für eine andere Frisur als einen Zopf. Deshalb habe ich mich für meinen Vater interessiert. Wenn ich meiner Mutter nicht ähnlich sah, wem dann?
    Der Brief kam aus einem Ort, der mir nicht das Geringste sagte. Irgendwo in meiner kleinen Wohnung musste es noch einen Atlas geben. Aus Schulzeiten. Ich weiß nicht, weshalb immer alle davon geredet haben, dass die Schulzeit die schönste überhaupt sein sollte. Meine Erinnerungen daran waren keineswegs verklärt. Die Angst, an die Tafel gerufen zu werden, war mir noch sehr präsent. Ich wäre gerne unsichtbar gewesen, um nicht dauernd erklären zu müssen, wo irgendein Fluss entsprang oder warum Bismarck Zuckerbrot und Peitsche an sein Volk austeilte. Leider hat der Wunsch allein nur wenig genützt. Ich wurde hin und wieder entdeckt. Insbesondere mein Mathematiklehrer machte sich einen gewissen Sport daraus, mich an der Tafel versagen zu lassen. Er tat das nicht aus Boshaftigkeit, sondern aus Neugier. Es faszinierte ihn, dass jemand so wenig Verständnis für Zahlen haben konnte.
    Der Atlas sah aus wie neu und roch nach Schule. Dieser unnachahmliche Geruch aus Butterbroten und Papier war mir ein Graus. Ich brauchte eine Weile, bis ich den Ort fand. Eine sehr kleine Stadt. Fast drei Stunden von meinem Zuhause. Ich wünschte mir, dass ich nicht zu faul gewesen wäre, mir einen Internetzugang zu verschaffen. Dann hätte ich wenigstens mal diesen Namen googeln können. Louis Kampen. Ein seltsamer Name. Vielleicht hätte ich so erfahren, dass mein Vater ein charismatischer Bankvorstand oder ein erfolgreicher Architekt gewesen war. Dann wäre mir meine Entscheidung, an der Beerdigung teilzunehmen, etwas leichter gefallen. Eine Erbschaft, vielleicht in Form eines Sommerhauses irgendwo am Meer, war nicht zu verachten. Falscher Stolz würde niemandem mehr etwas nützen.
    Hatte ich sogar Halbgeschwister? Viel zu verlieren gab es nicht. Trotzdem bekam ich Angst davor, mich einzulassen. Mich hätten auch Grausamkeiten erwarten können. Was, wenn er ein Krimineller gewesen war? Ein Mörder? Auch wenn man dazu viel Phantasie benötigte: Die Möglichkeit bestand.
    Ich schlug den Atlas zu. Immer wenn ich nachdenken wollte, musste ich etwas essen. Beim Öffnen des Kühlschranks schlug mir ein unangenehmer Geruch entgegen. Meine Mutter hatte mir mal geraten, ein Schälchen Milch in den Kühlschrank zu stellen. Milch zöge sämtliche unerwünschte Gerüche an. Doch es hatte nicht das Geringste genützt. Ich stopfte weiterhin alles in Tuppergeschirr. Der Gestank blieb. Außer einer Tube Senf und einem Glas Marmelade fand ich nur ein Stück Camembert. Aber ohne Brot bekam ich den nicht runter. Angesichts der Ebbe in meinem Kühlschrank wollte ich der Bewegung eine Chance geben.
    Das Wetter zeigte sich sommerlich und die Stadt grünte vor sich hin. Ich hatte das Gefühl, von einer künstlichen Kulisse umgeben zu sein. Lauter Feierabendgesichter wuselten geschäftig umher. Alle mit festem Schritt und scheinbar sicherem Ziel.
    Da ich andere Leute beim Joggen unmöglich fand, mit diesem verzerrten angestrengten Gesichtsausdruck, versteckte ich mich immer hinter einer riesigen Schirmmütze. Der kleine türkische Eisverkäufer erkannte mich trotzdem und rief mir ein „Schneller, schneller!“ zu. Ich quälte mir ein Lächeln ab. Die Motorengeräusche der Autos kamen mir
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