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Ich habe abgeschworen

Ich habe abgeschworen

Titel: Ich habe abgeschworen
Autoren: Mina Ahadi , Sina Vogt
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Allahs wurde nicht diskutiert. Es wurde überhaupt nicht diskutiert mit Kindern. Religion war ständig präsent, dennoch war sie auch etwas Beiläufiges, weil sie so selbstverständlich zu sein schien. Ich kannte zunächst niemanden ohne oder mit einer anderen Religion. Religion bestimmte den Lebensweg, aber da es keine Alternative zu geben schien, dachte ich nicht darüber nach. Allah war eine Tatsache, man betete fünfmal am Tag und hielt den Ramadan ein, Mädchen wurden ab der Pubertät in der Öffentlichkeit in einen Tschador gehüllt, verheiratet und zogen zu ihrem Mann und bekamen (hoffentlich) Kinder.
    Ich erinnere mich, wie ich im Alter von fünf Jahren mit anderen Kindern in unserem Hof spielte, es waren meine ältere Schwester und einige Cousinen. Eine Tante trat heran und stoppte unser Spiel. Was sie zu mir und meiner Schwester sagte, weiß ich noch genau: »Euer Vater ist gestorben.«
    Ich wusste nicht, was Sterben war, also fragte ich sie danach. Sie antwortete, mein Vater sei auf seiner letzten Reise. Die Fotos mit ihm wurden von meiner Mutter weggeräumt, und ich ahnte, dass Vater von dieser Reise nicht wiederkehren würde. Es war in unserer Kultur nicht üblich, Kindern etwas zu erklären. Allah hatte Vater zu sich genommen. Dass es ein Leben nach dem Tod gab, eines im Paradies oder in der Hölle, wenn man nicht Allah zu Gefallen gelebt hatte, auch das wusste ich einfach. Die Toten hatten viel Macht, ihre Geister waren immer unter uns. Einmal in der Woche, am Donnerstag, gingen die Frauen der Familie mit uns Kindern auf den Friedhof und beteten dort in einem Gebetsraum. Viele der Frauen weinten und riefen die Toten an. Die Toten waren bei uns und sahen alles. Man war nie unbeobachtet, weder von Allah noch von den Toten.
    Meine Familie lebte in einem kleinen Dorf im nordöstlichen Teil des Iran, im Grenzgebiet zu Aserbaidschan. Es gab genau eine Dorfstraße, von der rechts und links die Häuser abgingen. Sie bestand aus festgetretenem Lehm und mündete auf eine große, geteerte Bundesstraße, unser Tor zur Welt. Nach Teheran kam man mit einer vierstündigen Busfahrt. Die Landschaft rund um Abhar, so der Name des Dorfes, war flach und trocken. Im Sommer war es monatelang heiß, manchmal herrschte Dürre, und das Wasser wurde knapp. Die Winter waren sehr kalt, und wir hatten immer zwei bis drei Monate Schnee. Trauben wuchsen in unserem Dorf, daraus machten wir Saft und trockneten sie für den Winter. In unseren zwei Zimmern hing die ganze Decke voll mit Schnüren, an denen die Trauben zum Trocknen hingen. Milch, Käse und Joghurt holten wir vom Nachbarn, der zwei Kühe hatte. Es gab auch ein paar kleine Geschäfte, doch ab dem zwölften Lebensjahr wurden Mädchen und Frauen dort nicht gern allein gesehen. Ich erinnere mich noch gut, wie meine Mutter Schuhe kaufte: Ihr Bruder brachte ihr vier oder fünf Paar mit, und sie probierte sie zu Hause an. Wenn ein Paar passte, behielt sie das, und ihr Bruder brachte die restlichen zurück in das Geschäft.
    Nach dem Tod meines Vaters waren wir zur Familie seines Bruders in ein anderes Haus umgezogen. Meine Mutter durfte nicht mit den Kindern alleine wohnen, dass der nächste männliche Verwandte meines Vaters sich ihrer annahm, entsprach Tradition wie Religion und war der Lauf der Dinge, nichts, was man hinterfragte.
    Meine Mutter und wir vier Kinder lebten in zwei Räumen. Sie gingen zum Hof hinaus, der die Teile des Hauses in einem Rechteck miteinander verband. Der Hof war der Mittelpunkt des Familienlebens, hier saßen die Frauen der Familie, also meine Mutter, meine Tante und wir Töchter, und bereiteten die Mahlzeiten vor, während die kleineren Kinder spielten. Wir bekamen Getreide von einem Bauern zwei Häuser weiter. Das Brot wurde zu Hause in einem Feuerofen gebacken, große dünne Weißbrotfladen. Der Hof war vor allem Frauenreich, denn Haus und Hof verließen sie nur mit einem triftigen Grund, für einen Gang zum Markt oder aufs Feld oder in die Moschee.
    Die Wurzeln meiner Familie sind aserbaidschanisch, zu Hause und in der Stadt haben alle Menschen Türkisch gesprochen. Dieses aserbaidschanische Türkisch ist meine Muttersprache. In der Schule mussten wir alle Persisch sprechen. Ich hatte Glück, durch regelmäßige Besuche in Teheran bei meinem Großvater hatte ich Persisch schon als Kind gelernt. Aber die meisten Kinder mussten plötzlich in der Schule als Erstes eine fremde Sprache lernen, denn es war uns dort verboten, Türkisch zu sprechen.
    Der
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