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Ich habe abgeschworen

Ich habe abgeschworen

Titel: Ich habe abgeschworen
Autoren: Mina Ahadi , Sina Vogt
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waren Schmerzen und Unbeweglichkeit im rechten Knie so schlimm geworden, dass ich meinen Beruf als Altenpflegerin nicht mehr ausüben konnte und nur eine Operation Hoffnung auf Besserung brachte. Aber die Genesung schritt nur langsam voran.
    Anita hatte mir gerade von England erzählt, wo sie für ein Jahr in einer Gastfamilie lebte und zur Schule ging. Sie berichtete mir vom Linksverkehr und ihren ersten Beinahe-Unfällen, da sie immer zur falschen Seite nach Autos Ausschau hielt, und dass die Engländer scheinbar alles mit Essig würzten. Sie erzählte von ihrem englischen Freund, in dessen Familie sie freundlich aufgenommen worden war, und dass nach ihrem Eindruck die Engländer mehr arbeiteten und der Lebensstandard trotzdem niedriger sei. Ich freute mich darüber, sie für zwei Wochen zu Hause zu haben, ich liebe meine beiden Töchter sehr. Anita, die Ältere, hat keine Scheu, den Mund aufzumachen, wenn ihr etwas nicht passt. »Mama, das habe ich von dir gelernt«, meinte sie einmal. Letztens erst hatte sie auf der Schildergasse, Kölns großer Einkaufsstraße, eine Debatte mit einem Prediger angefangen. Der ältere Herr trug eine Bibel und predigte den Vorbeigehenden, dass Jesus die Antwort auf alle Probleme der Welt wäre und sie ihm folgen sollten. Anita meinte daraufhin zu ihm, die Menschen sollten lieber selber denken und sich füreinander und gegen die Armut engagieren. »Mutter, nach einigen Minuten hatte sich eine kleine Schar um uns geschart, und ich bekam tatsächlich Beifall.« Der Herr hatte ihr mit den Schrecken der Hölle gedroht, sollte sie nicht Jesus folgen, denn nur wer an Gott glaube, könne ein guter Mensch sein. Ihre Antwort jedoch war: »Ich lebe mein Leben gut und habe keine Angst vor einem Gott.«
    Ihre sechs Jahre jüngere Schwester, Mona, ist stiller, aber Unrecht kümmert sie nicht weniger. Sie erzählte vor Kurzem beim Abendessen, dass sie sich Sorgen um eine ehemalige Mitschülerin mache, eine Türkin namens Nilüfer. Diese hatte die Schule gewechselt, und Mona hatte sie auf dem Weg von der Schule nach Hause getroffen. »Mutter, sie trägt jetzt ein Kopftuch! Sie sagt, sie sei nun noch mehr Außenseiterin in der Klasse, die deutschen Mädchen und Jungen gucken sie komisch an, als ob sie sich vor ihr fürchten. Sie möchte das Kopftuch nicht tragen, aber ihre Eltern verbieten ihr, ohne Kopftuch das Haus zu verlassen. Ihre Eltern waren schon immer sehr streng, und ich glaube, sie schlagen ihre Kinder auch. Nilüfer sah so traurig aus, kannst du nicht etwas für sie tun?« Ich sagte Mona, dass ich für Nilüfer und ihresgleichen gegen das Kopftuch für Kinder kämpfe und dafür, dass sie an allen Schul- und Sportaktivitäten teilnehmen dürfen. Mona meinte daraufhin: »Das Kopftuch macht so hässlich, und dann spielen die anderen nicht mehr mit einem!«
    Ich bin froh, dass meine Töchter in einem Land aufwachsen, in dem Meinungsfreiheit herrscht. In dem sie nicht nur unter einem Kopftuch und Tschador verhüllt hinter ihren Männern – und nie ohne sie – über die Straße gehen können. Ich selbst bin unter der Diktatur des Schahs im Iran aufgewachsen, ich war aktiv in der – illegalen – linken Opposition gegen dieses Regime. Als die Revolution kam, hatten wir Hoffnung auf ein Leben in Freiheit, doch nur für einen sehr kurzen Augenblick. Denn im Gottesstaat wurde die Unterdrückung noch schlimmer, besonders für Frauen. Ich durfte nicht mehr in kurzen Röcken auf die Straße gehen, sondern musste mich verhüllen. Sah die Moralpolizei Haar unter meinem Kopftuch hervorspitzen – und sie fuhr Patrouille, um die Einhaltung der islamischen Kleiderordnung für Frauen zu kontrollieren -, konnte sie mich festnehmen.
    Unter dem Schah war es gefährlich, lebensgefährlich, in der verbotenen Opposition aktiv zu sein, aber erst unter Khomeini wurde ich in Abwesenheit zum Tode verurteilt. So floh ich 1980 erst nach Kurdistan, wo ich im Grenzgebiet von Iran und Irak mit vielen Hunderten ebenfalls Geflohener zehn Jahre lang als Partisanin lebte. 1990 war das Jahr meiner zweiten Flucht, diesmal nach Europa. Als ich in Bagdad ins Flugzeug stieg, ahnte ich nicht, dass ich schwanger war. Anita ist in Wien geboren, wie ihre jüngere Schwester Mona sechs Jahre später auch. Und wie immer der Weg der beiden aussehen wird, sie werden ihn mit freien Gedanken in einem freien Kopf gehen. Das ist mir jeden Tag Ansporn für meine politische Arbeit. Meine Töchter sind mir dabei im Herzen nah, aber ich sehe
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